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Kolumne

Versöhnung mit der eigenen Geschichte

Hier bin ich und schreibe. Ich schreibe. Das fühlt sich heute einigermassen okay an. Nicht so in der Vergangenheit. Umständlich. Mühsam. Eine Tortur. Für mich jedenfalls. Der Meister der Sprachnachrichten darf hier eine Kolumne schreiben. Schreiben!!!

Meine Hirnwindungen produzierten in Vergangenheit immer wieder die unglaublichsten Sätze – an der Grenze zur Genialität – dachte ich. Jedoch blieb ich häufig der Einzige, der diese nachvollziehen konnte. Durch die Primar- und Oberstufenzeit verfasste ich meine Texte mit dem Selbstwert eines gekränkten Vierjährigen. Immer im Wissen darum, dass das Geschriebene für den Leser oder die Leserin wohl unter die Kategorie „hat und gibt sich Mühe“ fällt. Das schmerzte und tangierte mein Selbstvertrauen stark. Noch heute gibt es Situationen, in denen ich schriftliche Aufgaben mit Öffentlichkeitscharakter am liebsten ausweichen würde. Was, wenn ich wieder korrigiert werde. Was, wenn meine Fähigkeiten in Frage gestellt werden? Was, wenn das beschriebene nicht verstanden wird?

Ich finde mich in verschiedenen Coachingsituationen mit jungen Menschen wieder, in denen schulische, aber auch persönliche Herausforderungen offengelegt werden. Viele dieser Menschen kommen aus komplexeren Geschichten und aus einem weniger stabilen Umfeld, als das bei mir der Fall ist.

Zum Beispiel der junge Mann, der mit sechs Jahren psychologisch abgeklärt wurde. Auf einen Schlag war seine übersprudelnde Energie in ein Label gepackt – ADHS. Stigmatisiert. Ein Sonderling. Es folgte eine Heimkarriere. Medikamente „stellten ihn ruhig“, wie er selbst sagt. Äusserlich ruhig, innerlich gekränkt. Mit 17 verweigerte er die Medikation. Landete auf der Strasse – obdachlos. Eine Karriere als Kleinkrimineller folgte.

In der Begleitung von ihm erleben wir viele Symptome, welche uns denken lassen, dass ADHS auch die grosse Herausforderung seines Erwachsenenlebens sein wird.
Etwas gegen das ADHS unternehmen – allenfalls mit einer gut eingestellten Medikation und mit Verhaltenstraining? „Nein, nicht nochmals professionelle Hilfe. Lieber erfolglos und auf dem Abstellgleis als stigmatisiert und medikamentiert“, so seine Aussage.

Kann ich es ihm verübeln? Nein. Kann ich das nachvollziehen? Teilweise. Schmerzt es zu sehen, dass er sich nicht professionell helfen lassen will? Sehr!

Wie reagiere ich nun darauf? In der Sache klar. „Ich glaube es ist wichtig, dass du dich auf diesen Prozess einlässt! Was sind deine nächsten Schritte?“ Und da ist noch die Beziehungsebene. Auch hier bin ich um Klarheit bemüht: „Ich sehe dein Leid. Ich nehme es ernst. Ich wünsche dir, dass du deine Ziele erreichen kannst. Ich bin da für dich.“

Nicht selten merke ich, dass die Geschichten unserer Teilnehmenden auch meine Geschichten sind. Häufig verkorkster und doch ähnlich. Erlebnisse von gebrochenen Menschen, welche verunsichert sind, an sich zweifeln oder gar verzweifeln und bisweilen eine Wut gegen die Welt entwickeln.

Erfahrungen aus der Streetchurch zeigen mir: Ernst genommene Ängste und die Anerkennung von gebeuteltem (Selbst-)Vertrauen, sind eine Grundlage zur Versöhnung mit der eigenen Geschichte. Ich erlebe, dass sich Personen positiv entwickeln können, wenn Menschen innerhalb der Gemeinschaft eigene Defizite und Nöte kennen, benennen und diese einander in einem vertrauensvollen Rahmen zumuten können. Wo Vertrauen ist, kann auch neues Selbstvertrauen erlangt werden. Alle drei Erfahrungen gelten für den selbstwertgekränkten Schreiberling, den Delinquenten und für alle anderen.
Diese Art von Gemeinschaft – in welcher Platz ist für persönlichen Not – ermöglicht Heilung und Versöhung. Das ist für mich: Streetchurch.