Kategorien
Fachartikel

Top4Job: Beziehungsorientiert zu neuen Perspektiven.

Für viele Jugendliche ist der Schritt aus der obligatorischen Schulzeit in eine zertifizierende berufliche Grundausbildung mit erheblichen Herausforderungen verbunden. Die Zahlen und Statistiken variieren, aber man kann festhalten: Es sind nicht wenige, die beim Übertritt an der Nahtstelle zwischen Sekundarstufe I und II ohne Ausbildungsplatz bleiben. Neben beruflichen Orientierungsschwierigkeiten sind es oft fehlende psychosoziale Ressourcen in mehreren Lebensbereichen und schwierige familiäre Verhältnisse, welche den erfolgreichen Eintritt ins berufliche Leben erschweren.

Neuere Forschungsergebnisse zeigen ausserdem, dass in vielen Fällen Selektionskriterien eine relevante Rolle spielen, die im bildungspolitischen Diskurs wenig Erwähnung finden. Es sind dies Faktoren wie die soziale Herkunft, das Geschlecht und die Unterstützung durch Elternhaus und Schule. Faktoren also, die sich mit dem Postulat der strukturellen Chancengleichheit nicht vereinbaren lassen und demnach keine Rolle spielen dürften, es aber im Endeffekt trotzdem tun – mit erheblichen Konsequenzen für die betroffenen Jugendlichen. Bleibt eine Anschlusslösung nach der obligatorischen Schulzeit zunächst aus, wird die Chance, in eine zertifizierende Berufsusbildung einzutreten und diese erfolgreich abzuschliessen, substanziell reduziert.

An dieser Stelle setzen Brückenangebote und Berufsvorbereitungsmassnahmen wie das Trainingsprogramm «Top4Job» der Streetchurch an. «Top4Job» bietet jungen Menschen zwischen 15 und 25 Jahren, die den Einstieg in die Berufswelt aus diversen, oft multifaktoriellen Gründen, bisher nicht gefunden haben, eine niederschwellige und ganzheitliche Tagesstruktur mit individueller Unterstützung und Hinführung an den ersten Arbeitsmarkt. Ziel ist es, die Teilnehmerinnen in eine Lehre, ein Praktikum oder eine feste Arbeitstelle zu integrieren. Dies geschieht durch die Förderung der Lebenskompetenzen, insbesondere der Arbeits-, Selbst- und Sozialkompetenzen. Die Teilnehmerinnen gehen auf Arbeitseinsätze im Bereich Reinigung und Unterhalt und besuchen die Bildung, wo sie sich ihrem Berufswahl- und Bewerbungsprozess und der Weiterentwicklung ihrer schulischen Fähigkeiten widmen sowie an Modulen zu allgemeinen Lebenskompetenzen teilnehmen und mitwirken.Ausserdem können psychologische und sozialarbeiterische Beratung in Anspruch genommen und so psychosoziale Ressourcen (Wohnsituation, finanzielle Sicherheit, physische und psychische Gesundheit) gestärkt werden.

Ein interdisziplinäres Team aus den Bereichen Sozialberatung, Agogik, Andragogik und Psychologie begleitet die jungen Menschen professionell und ressourcenorientiert. Die Erfahrung zeigt, dass dieser holistische Ansatz und der Fokus auf die Beziehungorientierung, eine wichtige Grundlage für gelingende Veränderungsprozesse der Jugendlichen und jungen Erwachsenen darstellt. Beziehungsorientierung heisst für uns auch ein bewusstes Angebot zur Gemeinschaft. Dies zeigt sich beispielsweise im spontanen Austausch beim Mittagessen, in ausserprogrammlichen Angeboten, wie dem wöchentlichen Sport in einer nahegelegenen Turnhalle, aber auch in der Bereitschaft, auch ausserhalb der Angebotszeiten für Anliegen und Gespräche verfügbar zu sein. Das alles geschieht bedacht und achtsam und im Wissen, dass mancher Professionalisierungsdiskurs davor warnt.

Immer wieder erleben wir, wie lohnenswert dieser Weg ist und dass junge Menschen mit schwierigen persönlichen Geschichten und Mehrfachproblematik, unter anderem dadurch ihre Motivation wiederfinden, sich auf einen Veränderungsprozess einlassen und so handlungsfähig werden und gelingendes Leben entdecken. Eine Teilnehmerin hat kürzlich erklärt, sie komme nicht nur für die Arbeit und ihre persönlichen Integrationsziele in die Streetchurch, sondern habe hier auch ein zweites Zuhause gefunden. Ich bin der Überzeugung, dass eine solche Atmosphäre des «nach Hause kommens» die perfekten Rahmenbedingungen für junge, entwurzelte Menschen schafft und sie ermutigt und befähigt, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen und mit neuer Perspektive ihre Ziele zu verfolgen.

Kategorien
Fachartikel

Ausbildungsbegleitung: Weil 20% Lehrvertragsauflösungen zu viel sind.

Ein gelingender Übergang von der Schule ins Berufsleben stellt für viele junge Menschen eine grosse Herausforderung dar. Insbesondere an der Nahtstelle zwischen den Sekundarstufen I und II stossen viele Jugendliche auf erhebliche Schwierigkeiten. Rund 20% der Jugendlichen und jungen Erwachsenen bleibt der direkte Übergang in die berufliche Grundbildung verwehrt.[1]

Dass die Suche nach dem richtigen Lehrberuf und dem passenden Ausbildungsbetrieb für viele junge Menschen ein steiniger Weg ist, erlebe ich im Berufsvorbereitungsprogramm «Top4Job» der Streetchurch täglich. Absage folgt Absage, Misserfolg folgt Misserfolg. Manche Betriebe geben auf die per Mail oder Lehrstellenplattform eingereichte Bewerbung nicht einmal eine Antwort. Dass da die Frustration bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen wächst und die Hoffnung der Perspektivlosigkeit weicht, ist mehr als nur verständlich. Klappt es dann irgendwann doch noch mit der Lehrzusage, ist das natürlich ein Grund zum Feiern. Und doch: Ein unterzeichneter Lehrvertrag in der Tasche ist noch kein Garant dafür, dass der Lehrabschluss nach zwei (EBA), drei oder vier (EFZ) Jahren auch tatsächlich gelingt. Schweizweit wird jährlich mehr als jeder fünfte Lehrvertrag vorzeitig aufgelöst.[2] Bei jungen Menschen mit Migrationshintergrund ist es gar jeder vierte. Gewisse Branchen verdienen sich dabei keine guten Noten. So wird durchschnittlich mehr als jede dritte (!) angefangene Coiffeurlehre vorzeitig aufgelöst.

Die Gründe sind, wie so oft, vielschichtiger Natur. Nicht selten spielen schwierige Familiensysteme und fehlende Unterstützung von Seiten der Eltern eine wesentliche Rolle.[3] Diese Unterstützung ist insbesondere bei der beruflichen Orientierung von entscheidender Bedeutung. Wo sie fehlt, droht den betroffenen Jugendlichen in der Berufswahl die Überforderung und demnach die berufliche Orientierungslosigkeit. Denn die Lehrpersonen in der Sekundarschule vermögen vieles, aber eine Klasse mit 20 und mehr Schülerinnen und Schülern individuell in der Berufswahl und im Bewerbungsprozess zu begleiten, ist eine Herkulesaufgabe. Neben der zu wenig tiefen Auseinandersetzung mit der Berufswahl sind psychische Belastungen ein entscheidender Faktor für Lehrvertragsauflösungen [4]. Unsere Erfahrung zeigt zudem, dass auch zwischenmenschliche Probleme mit dem/der Berufsbildner*in und branchen- oder betriebsbezogene Missstände in der Berufsbildung immer wieder Grund für das frühzeitige Beenden einer Ausbildung sind.

Um junge Menschen, die unter anderem vom Berufsvorbereitungsprogramm «Top4Job» in eine Lehre einsteigen, mit diesen Herausforderungen nicht allein zu lassen, begleiten und unterstützen wir sie seit einigen Jahren auch während der Ausbildung nach ihrem individuellen Bedarf. Im Sommer 2020 haben wir diese Nachbetreuung noch einmal professionalisiert, konzeptionell überarbeitet, Workshops mit Lernenden und Fachleuten durchgeführt, sowie Ausbildungsbetriebe und Ämter befragt. Als Ergebnis dieses Prozesses ist das Angebot «Ausbildungsbegleitung» entstanden. Angelehnt an das Konzept der «Supported Education» begleiten wir die jungen Menschen während ihrer Ausbildung durch ein Jobcoaching. Der Job Coach unterstützt die lernende Person bei arbeitsbezogenen Fragen und im Umgang mit Stress und Konflikten, fördert die Zusammenarbeit mit dem Ausbildungsbetrieb und berät den/die Berufsbildner*in bei anstehenden Fragen und Schwierigkeiten. Neben dem Jobcoaching umfasst die Ausbildungsbegleitung ein Case Management und kann durch ein berufsschulergänzendes Lerncoaching sowie eine psychologische Begleitung und Beratung ergänzt werden. Die Prinzipien, die uns dabei leiten, sind dieselben, die unserer Arbeit auch in anderen Angeboten zugrunde liegen: Beziehungsorientierung, Individualität, Ganzheitlichkeit und Langfristigkeit.

Auch wenn diese Begleitung den Abschluss der Berufslehre nicht garantiert: Ich bin überzeugt, dass viele junge Menschen dadurch die Unterstützung erhalten, die sie brauchen, um erfolgreich durch die Ausbildung zu kommen und im Anschluss daran im Erwerbsleben Fuss zu fassen. Es ist mir deshalb ein grosses Anliegen, dass dieses Angebot an Bekanntheit gewinnt und sich so auch die Quote der erfolgreichen Lehrabschlüsse und Berufseinstiege verbessern darf.


[1] Landert, Charles & Eberli, Daniela (2015): Bestandsaufnahme der Zwischenlösungen an der Nahtstelle I. Bericht. Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI).

[2] Bundesamt für Statistik (2019): Lehrvertragsauflösung, Wiedereinstieg, Zertifikationsstatus. Resultate zur dualen beruflichen Grundbildung (EBA und EFZ).

[3] Duc, Barbara; Lamamra, Nadia; Lovirc, Ivana & Mellone, Valeria (2013): Lehrabruch – was nun? Eidgenössisches Hochschulinstitut für Berufsbildung (EHB IFFP IUFFP).

[4] Sabatella, Filomena & von Wyl, Agnes (2017): Supported Education in der Schweiz. Hilfe für junge Erwachsene beim Übertritt in das Berufsleben. ZHAW, Angewandte Psychologie.

Kategorien
Fachartikel

Sozialberatung: Ganzheitlicher Support bis zum Ziel

Junge Menschen müssen beim Übergang vom Jugendalter ins Erwachsenenleben komplexe Herausforderungen meistern: Berufsfindung und Ausbildung, Ablösung von den Eltern, Umgang mit Geld, persönliche Administration, Identitätsentwicklung – und vieles mehr.

Gründe, an einer oder mehreren dieser Herausforderungen zu scheitern, gibt es viele. Die Erfahrung in der Streetchurch zeigt, dass häufig komplexe familiäre Situationen und psychosoziale Belastungen dazu beitragen. Konflikte, Kündigungen, unbefriedigende Wohnsituationen, Resignation in der persönlichen Administration, Konsum von Suchtmitteln, geringer Selbstwert – meist bringt eines dieser Themen einige weitere mit sich.
In der Streetchurch begleiten Sozialarbeitende junge Erwachsene bei diesen Herausforderungen. Dies im Rahmen unseres Angebots Sozialberatung oder in den Angeboten Top4Job und Begleitetes Wohnen, in denen sie als interne Case Manager und Case Managerinnen fungieren. Dabei wird die kooperative Zusammenarbeit zwischen internen und externen Fachpersonen koordiniert und initiiert. Als verlässliche Bezugspersonen geben die Sozialarbeitenden den jungen Erwachsenen Orientierung, Sicherheit und entwickeln mit ihnen neue Perspektiven. Die Richtung bestimmen die jungen Erwachsenen individuell. Die Sozialarbeitenden bieten einen Werkzeugkoffer an Methoden und Fachwissen, der die Zielerreichung unterstützt. Dieser besteht dabei nicht nur aus fachlichem Rat, sondern auch aus Ermutigung und Begleitung – praktisch und konkret.

Auch junge Menschen wollen nicht einfach als Klient und Klientin oder Fallnummer abgehandelt werden. Sie wollen gesehen und gehört werden. Zeigen die Sozialarbeitenden echtes Interesse und investieren sie in die Beziehung, erleben wir es häufig, dass junge Menschen sich öffnen und sich ermutigt fühlen, auch an Schwächen zu arbeiten. Von den Fachpersonen in der Streetchurch fordert dies immer wieder den Entscheid, sich voll und ganz auf den Menschen einzulassen, auch wenn er oder sie sich mit ihrem Verhalten sträubt. Nahe am Menschen finden sich so im gemeinsamen Unterwegssein individuell zugeschnittene Lösungen.
In der Schweiz verfügen wir durch Sozialversicherungen und die Sozialhilfe über ein Netz, das soziale Sicherheit ermöglicht. Für manche unserer Klienten und Klientinnen stellen bereits die damit geforderten Formalitäten eine Hürde dar und sie scheitern an der Selbstorganisation oder an mangelndem Selbstvertrauen. Andere sind sogenannte Care-Leaver und seit Jahren in Kontakt mit Fachpersonen. Erfahrungsgemäss ist deren Kooperationsbereitschaft insbesondere gegenüber Amtspersonen häufig klein. Die Fachpersonen der Streetchurch nehmen dabei eine vermittelnde Rolle ein, indem sie den jungen Erwachsenen auf der Beziehungsebene ihre Würde zusprechen sowie schwierige Schritte gemeinsam in Angriff nehmen und bewältigen. Die kooperative Zusammenarbeit mit internen und externen Fachpersonen ist dabei ein wichtiges Hilfsmittel. Damit können die Aufgaben geklärt, Synergien genutzt und Doppelspurigkeiten vermieden werden.
Ein grosser Stellenwert hat in der Streetchurch die nachhaltige Veränderung. Die Praxis zeigt, dass diese nur gelingen kann, wenn die Menschen ganzheitlich erfasst und unterstützt werden. Je nach Ausgangslage braucht dies Zeit und Vertrauen. Doch nur auf einem stabilen Fundament kann nachhaltig aufgebaut werden.

Photo by Steven Lelham on Unsplash

Kategorien
Fachartikel

Organisationsentwicklung: Sinnstiftende Zusammenarbeit

Dynamik und Komplexität im Alltag bewältigen. Als Streetchurch befinden wir uns auf dem Weg zur agilen und evolutionären Organisation.

Seit 15 Jahren engagieren wir uns als Streetchurch im multikulturellen und urbanen Umfeld des Grossraums Zürich. Wir begegnen und begleiten tagtäglich Menschen, die in verschiedenen Lebensbereichen vor grossen Herausforderungen stehen. In diesem Kontext erleben wir ganz besonders, was allgemein für die heutige Welt gilt: Dynamik und Komplexität nehmen auf allen Ebenen zu. Schnelle und kurzfristige Veränderungen, Unsicherheiten und fehlende Klarheit, Doppel- und Mehrdeutigkeiten sowie Unvorhersehbares und zu viele Einflussfaktoren müssen im Alltag unter einen Hut gebracht werden. Darauf eine Antwort zu finden, fällt nicht nur den Teilnehmenden unserer Angebote schwer. Als ganze Streetchurch sind wir gefordert. Die Antwort auf diese Herausforderungen heisst Agilität. Der Duden definiert sie als «die Fähigkeit … flexibel, aktiv, anpassungsfähig und mit Initiative in Zeiten des Wandels und der Unsicherheit zu agieren». Ein hoher Anspruch an uns als Organisation, unsere Mitarbeitenden und alle unsere Ziel- und Anspruchsgruppen.

Der belgische Unternehmensberater Frederic Laloux illustriert in seinem Buch «Reinventing Organizations» einen Leitfaden für sinnstiftende und agile Formen der Zusammenarbeit. Er zeigt auf, wie Organisationen als lebendige Organismen mit agilen Strukturen, agilen Prozessen und ganz allgemein mit einer Kultur der Agilität geprägt werden können. Agilität ist dabei mehr als eine Methode oder ein neues Werkzeug. Agilität soll als grundlegende Denkweise und Haltung verstanden werden – quasi als «Mindset» der Organisation. Denn dahinter steht ein grundlegend anderes Menschenbild als das, was leider noch in zu vielen Unternehmen und allgemein zu häufig im ersten Arbeitsmarkt vorherrscht. Oft ist man da der Überzeugung, dass der Mensch extrinsisch motiviert werden muss, weil er als schwach und unfähig sein Leben zu gestalten und zu verantworten angesehen wird. Resultate sind oft hoher Leistungsdruck und starke Überforderung der Einzelnen. Nicht so in agilen Organisationen. Sie sehen den Menschen als intrinsisch motiviert, der gerne und freiwillig arbeitet und Leistung bringt, der sein Leben selbst bestimmt und darin Sinn und Selbsterfüllung findet.

Schon seit unserer Gründung haben wir uns in der Streetchurch einem Menschenbild verschrieben, das jedem Menschen einen umfassenden Wert und eine unantastbare Würde zugesteht. Vieles von dem, was wir in den letzten Jahren lanciert und wofür wir uns bei vielen einzelnen Personen engagiert haben, war davon geprägt. Die Grundlage war also gelegt, als wir Ende des Jahres 2017 entschieden, uns noch stärker, fokussierter und nachhaltiger zur agilen Organisation zu entwickeln. Denn darin sehen wir das Potenzial, um uns auch in Zukunft umfassend und nachhaltig für die uns anvertrauten Menschen zu engagieren. Inspiration und Vorbild sind uns seither die rund ein Dutzend von Frederic Laloux untersuchten und von ihm so genannten «evolutionären Organisationen». Sie haben es geschafft, als lebendige Organismen in verschiedenen Branchen und in einer Welt voller Dynamik und Komplexität agil zu agieren.

Dabei stehen drei Prinzipien im Vordergrund: die Selbstorganisation, die Suche nach Ganzheit und der evolutionäre Sinn.

Drei Prinzipien, die wir nun auch in der Streetchurch stärken und etablieren.

Selbstorganisation bedeutet, dass hierarchische und bürokratische Pyramidenstrukturen durch ein vernetztes System verteilter Autorität und kollektiver Verantwortung ersetzt werden. Wir haben deshalb den ordentlichen Stellenbeschrieb abgeschafft. An seine Stelle treten flexible Rollen, welche von Mitarbeitenden und anderen engagierten Personen selbstverantwortlich übernommen werden. Rollen stärken das Bewusstsein aller Mitarbeitenden für die ihnen übertragene Verantwortung. Eine Verantwortung, die sie durch selbständige Entscheide umfassend wahrnehmen können. Einziges Kriterium: Sie lassen sich vor dem Entscheid von den vom Entscheid betroffenen Personen und von Experten beraten.

Mit dem Prinzip der Suche nach Ganzheit sollen sich die Menschen in einer Organisation wieder umfassend und ganzheitlich einbringen können. Nicht nur ein begrenztes und professionelles Selbst soll in den Alltag der Organisation eingebracht werden, sondern der Mensch als Ganzes, mit allen seinen Begabungen, Stärken, Schwächen und Herausforderungen. In einer Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens und der bedingungslosen Wertschätzung können sich Menschen so neu entfalten. Das gilt für unsere Mitarbeitenden genauso wie für die Teilnehmenden unserer Integrationsangebote. Ausprobieren, Neues wagen und dabei Fehler machen und zugestehen – das gehört selbstverständlich dazu.

Das Prinzip des evolutionären Sinns stellt schliesslich sicher, dass die Menschen in einer Organisation gemeinsam auf das hören, wohin sich die Organisation entwickeln will. Strategie und Planung sind nicht mehr allein die Aufgabe der Leitung. Diese muss nicht länger alleine die Zukunft vorhersagen und alle möglichen und unmöglichen Einflussfaktoren unter Kontrolle bringen. Auch in der Streetchurch gilt deshalb, dass sich alle Mitarbeitenden und engagierten Personen in die Weiterentwicklung der Streetchurch einbringen. Nicht nur einmal pro Jahr in einem moderierten Strategieprozess, sondern jeden Tag, jede Woche und jeden Monat bei vielen grossen und kleinen Entscheiden und Prozessoptimierungen im eigenen Verantwortungsbereich.

Wir haben uns auf den Weg gemacht, die Prinzipien einer evolutionären Organisationsentwicklung in unserem Kontext des sozialdiakonischen Engagements zu etablieren. Wir sind gespannt, wie wir damit die Grundlage legen, um auch in den nächsten Jahren in einer Gesellschaft voller Dynamik und Komplexität als Streetchurch unseren Beitrag leisten zu können.

Kategorien
Fachartikel

Psychologie: Die Kunst des richtigen Tempos

Manchmal scheint die Luft im Streetchurch-Zentrum zu vibrieren. Junge Menschen in den unterschiedlichsten Problemlagen suchen in unseren Räumen nach dem roten Faden in ihrem Leben oder auch nur nach einer kurzen Pause im Dauerstress ihres Überlebenskampfes.

Bis heute haben wir es noch nicht geschafft, die psychische Verfassung der jungen Menschen, die bei uns ein- und ausgehen, systematisch zu erfassen. Was sich aber mit Bestimmtheit sagen lässt, ist, dass der Anteil der psychisch gesunden jungen Menschen in unseren Angeboten nicht hoch ist. Der überwiegende Teil der Angebotsnutzer bringt massive psychische Belastungen mit und bewegt sich an den beiden Extremen: entweder nie aufgefallen und ohne Zugang zu den offiziellen Unterstützungsangeboten oder lange Reihe von Institutionen und grosses, aber nicht funktionierendes Helfersystem. In jedem Fall stranden diese jungen Menschen in unserem Zentrum mit einem Gefühl der Hilflosigkeit angesichts einer anforderungsreichen, unübersichtlichen und meist feindselig erlebten Umwelt. Ist es wirklich so schwierig, in der gut organisierten Schweiz, im reichen Zürich, die passende soziale Hilfe und psychologisch-psychiatrische Unterstützung zu bekommen? Unsere Erfahrung ist: Ja, es ist sehr schwierig. Die Problemlagen der jungen Menschen sind komplex und betreffen meist sowohl unser Sozialsystem als auch das Gesundheitssystem, entsprechend sind da Schnittstellen, ungeklärte Finanzierungsfragen, Problemstellungen, für die keine Lösung vorgesehen ist. Ein kleines Beispiel hierzu: Ist eine berufliche Massnahme über die IV wegen psychischer Instabilität gescheitert, muss der junge Erwachsene erst wieder beweisen, dass er in der Lage ist, über sechs Monate mindestens 50% arbeitstätig zu sein. Institutionen und Kostenträger, die dies ermöglichen, gibt es jedoch meist nicht, da muss der Klient sich selber etwas organisieren.

Hinzu kommt, dass die Akteure des Sozial- und Gesundheitssystems selber stark herausgefordert sind: Da ist auf der einen Seite die Ökonomisierung des Gesundheitswesens, wie sie sich beispielsweise im neuen Tarif für psychiatrische Leistungen (TARPSY) niederschlägt. Auf der anderen Seite ist der Spardruck vieler politischer (Agglomerations-)Gemeinden und der Sozialwerke (vor allem der IV), der die Akteure zu immer komplexeren und differenzierteren Methoden zwingt, um ihr Vorgehen zu legitimieren. Auch auf dem Arbeits- und Lehrstellenmarkt nimmt der Druck zu, dort sind es die Volatilität und Komplexität wirtschaftlicher Entwicklungen, die auf die beruflichen Integrationschancen junger Erwachsener einwirken. Dies zeigt sich zum Beispiel im überdurchschnittlichen Anstieg der Arbeitslosenquote der Geringqualifizierten. Kurzum, womit sich heutzutage Führungskräfte herumschlagen, damit schlagen sich auch hilfesuchende junge Erwachsene herum:

Unsere Welt ist volatil, unsicher, komplex, vieldeutig geworden, und wer psychisch belastet ist und dazu noch ein wenig unerfahren, tut sich damit schwer.

Aber auch die helfende Profession tut sich damit schwer und ist oft mehr mit der Bewältigung dieser Situation beschäftigt als mit dem Aufbau angemessener Angebote angesichts dieser Entwicklung.

In der Streetchurch beschäftigen wir uns täglich damit, die administrativen, rechtlichen und finanziellen Bruchstellen in den historisch gewachsenen Hilfesystemen zu überwinden und trotz ungenügender Ressourcen Kooperationen zwischen verschiedenen psychiatrischen, psychologischen und sozialarbeiterischen Anbietern so zu gestalten, dass unsere Klienten die notwendige Unterstützung erhalten.
Dazu braucht es zwei ganz unterschiedliche Ingredienzen:
Wir müssen sehr langsam sein, und wir müssen sehr schnell sein. Wir müssen so langsam sein, dass unsere Klienten ankommen können, damit sich Vertrauen bildet zwischen uns, damit für sie ein Gefühl von Sicherheit entsteht und wir überhaupt verstehen können, was sie brauchen und wer sie sind. Das reduziert Unsicherheit und Vieldeutigkeit aufseiten der integrationssuchenden jungen Menschen und aufseiten der unterstützenden Institutionen. Zwei bis drei Monate braucht das – dann sind die 60 Tage, nach denen nach TARPSY eine Behandlung abgeschlossen werden sollte, da sonst unökonomisch, schon vorbei! Dafür werden wir so zu verlässlichen Partnern anderer Player, weil wir die Situation unserer Klienten gut einschätzen können. Und wir müssen sehr schnell sein, flexibel sein, weil die komplexen Problemlagen unserer Klienten oft mit drängender Not verbunden sind, und erste Reaktionen wichtig sind, damit sich dieses Gefühl der Sicherheit, die Grundlage eines erfolgreichen Veränderungsprozesses, überhaupt einstellen kann. Wir haben darum für uns das Konzept der Agilität entdeckt, das allen Mitarbeitenden ermöglicht, aus dem direkten Kontakt mit den Klienten heraus die Beratungsprozesse selbstverantwortlich und selbstführend zu gestalten. Wir stellen fest, dass dies uns hilft, niederschwellig, ganzheitlich und individuell zu bleiben, so wie wir es uns auf die Fahnen geschrieben haben, und dass es zugleich für uns selber ermutigend und energetisierend ist.

Michèle Fark, Psychotherapeutin Streetchurch