Manchmal scheint die Luft im Streetchurch-Zentrum zu vibrieren. Junge Menschen in den unterschiedlichsten Problemlagen suchen in unseren Räumen nach dem roten Faden in ihrem Leben oder auch nur nach einer kurzen Pause im Dauerstress ihres Überlebenskampfes.
Bis heute haben wir es noch nicht geschafft, die psychische Verfassung der jungen Menschen, die bei uns ein- und ausgehen, systematisch zu erfassen. Was sich aber mit Bestimmtheit sagen lässt, ist, dass der Anteil der psychisch gesunden jungen Menschen in unseren Angeboten nicht hoch ist. Der überwiegende Teil der Angebotsnutzer bringt massive psychische Belastungen mit und bewegt sich an den beiden Extremen: entweder nie aufgefallen und ohne Zugang zu den offiziellen Unterstützungsangeboten oder lange Reihe von Institutionen und grosses, aber nicht funktionierendes Helfersystem. In jedem Fall stranden diese jungen Menschen in unserem Zentrum mit einem Gefühl der Hilflosigkeit angesichts einer anforderungsreichen, unübersichtlichen und meist feindselig erlebten Umwelt. Ist es wirklich so schwierig, in der gut organisierten Schweiz, im reichen Zürich, die passende soziale Hilfe und psychologisch-psychiatrische Unterstützung zu bekommen? Unsere Erfahrung ist: Ja, es ist sehr schwierig. Die Problemlagen der jungen Menschen sind komplex und betreffen meist sowohl unser Sozialsystem als auch das Gesundheitssystem, entsprechend sind da Schnittstellen, ungeklärte Finanzierungsfragen, Problemstellungen, für die keine Lösung vorgesehen ist. Ein kleines Beispiel hierzu: Ist eine berufliche Massnahme über die IV wegen psychischer Instabilität gescheitert, muss der junge Erwachsene erst wieder beweisen, dass er in der Lage ist, über sechs Monate mindestens 50% arbeitstätig zu sein. Institutionen und Kostenträger, die dies ermöglichen, gibt es jedoch meist nicht, da muss der Klient sich selber etwas organisieren.
Hinzu kommt, dass die Akteure des Sozial- und Gesundheitssystems selber stark herausgefordert sind: Da ist auf der einen Seite die Ökonomisierung des Gesundheitswesens, wie sie sich beispielsweise im neuen Tarif für psychiatrische Leistungen (TARPSY) niederschlägt. Auf der anderen Seite ist der Spardruck vieler politischer (Agglomerations-)Gemeinden und der Sozialwerke (vor allem der IV), der die Akteure zu immer komplexeren und differenzierteren Methoden zwingt, um ihr Vorgehen zu legitimieren. Auch auf dem Arbeits- und Lehrstellenmarkt nimmt der Druck zu, dort sind es die Volatilität und Komplexität wirtschaftlicher Entwicklungen, die auf die beruflichen Integrationschancen junger Erwachsener einwirken. Dies zeigt sich zum Beispiel im überdurchschnittlichen Anstieg der Arbeitslosenquote der Geringqualifizierten. Kurzum, womit sich heutzutage Führungskräfte herumschlagen, damit schlagen sich auch hilfesuchende junge Erwachsene herum:
Unsere Welt ist volatil, unsicher, komplex, vieldeutig geworden, und wer psychisch belastet ist und dazu noch ein wenig unerfahren, tut sich damit schwer.
Aber auch die helfende Profession tut sich damit schwer und ist oft mehr mit der Bewältigung dieser Situation beschäftigt als mit dem Aufbau angemessener Angebote angesichts dieser Entwicklung.
In der Streetchurch beschäftigen wir uns täglich damit, die administrativen, rechtlichen und finanziellen Bruchstellen in den historisch gewachsenen Hilfesystemen zu überwinden und trotz ungenügender Ressourcen Kooperationen zwischen verschiedenen psychiatrischen, psychologischen und sozialarbeiterischen Anbietern so zu gestalten, dass unsere Klienten die notwendige Unterstützung erhalten.
Dazu braucht es zwei ganz unterschiedliche Ingredienzen:
Wir müssen sehr langsam sein, und wir müssen sehr schnell sein. Wir müssen so langsam sein, dass unsere Klienten ankommen können, damit sich Vertrauen bildet zwischen uns, damit für sie ein Gefühl von Sicherheit entsteht und wir überhaupt verstehen können, was sie brauchen und wer sie sind. Das reduziert Unsicherheit und Vieldeutigkeit aufseiten der integrationssuchenden jungen Menschen und aufseiten der unterstützenden Institutionen. Zwei bis drei Monate braucht das – dann sind die 60 Tage, nach denen nach TARPSY eine Behandlung abgeschlossen werden sollte, da sonst unökonomisch, schon vorbei! Dafür werden wir so zu verlässlichen Partnern anderer Player, weil wir die Situation unserer Klienten gut einschätzen können. Und wir müssen sehr schnell sein, flexibel sein, weil die komplexen Problemlagen unserer Klienten oft mit drängender Not verbunden sind, und erste Reaktionen wichtig sind, damit sich dieses Gefühl der Sicherheit, die Grundlage eines erfolgreichen Veränderungsprozesses, überhaupt einstellen kann. Wir haben darum für uns das Konzept der Agilität entdeckt, das allen Mitarbeitenden ermöglicht, aus dem direkten Kontakt mit den Klienten heraus die Beratungsprozesse selbstverantwortlich und selbstführend zu gestalten. Wir stellen fest, dass dies uns hilft, niederschwellig, ganzheitlich und individuell zu bleiben, so wie wir es uns auf die Fahnen geschrieben haben, und dass es zugleich für uns selber ermutigend und energetisierend ist.
Michèle Fark, Psychotherapeutin Streetchurch