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Jesus – ein Nachruf

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Weihnachten – eine Zumutung

Das Bild sitzt tief in unserem kollektiven Gedächtnis: Diese herzerwärmende Krippenszene mit Maria, das frischgeborene Jesuskindlein in ihren schützenden Armen oder bereits in der wärmenden Futterkrippe, dazu der verklärte Blick des Josefs, die andächtig frommen Hirten und das mindestens so andächtige Vieh, in Reih und Glied brav drapiert um den «holden Knaben mit lockigem Haar. Schlaf in himmlischer Ruh! Schlaf in himmlischer Ruh!» Doch, ganz unabhängig davon, wieviel Historizität man den Weihnachtsgeschichten der Evangelien zugesteht, die uns dort überlieferten Ereignissen vermitteln eine Realität, die in scharfem Kontrast zu unseren süsslich-romantisierenden Krippenliedern stehen. Was uns in den Berichten rund um die Geburt Jesu überliefert wird, ist im wahrsten Sinn des Wortes skandalös, anstössig, eine einzig grosse Zumutung für alle Beteiligten. Beginnen wir mit Maria, der «jungen Frau». Auch wenn dies der ursprüngliche Text nicht hergibt, war sie wohl auch Jungfrau, wohlerzogen und wohlbehütet im Schoss ihrer Familie. Verlobt wurde sie mit grosser Wahrscheinlichkeit als Teenager, vielleicht bereits im zarten Alter von zwölf Jahren. Als der himmlische Bote ihr die Schwangerschaft verkündet, war sie kaum viel älter als vierzehn, höchstens sechzehn. Dabei war ihre sexuelle Unversehrtheit die unverhandelbare Voraussetzung für ein unbescholtenes Leben an der Seite von Josef. War… Denn unverhofft bricht das bereits erwähnte himmlische Wesen in ihr Leben ein und beendet ungefragt und brutal ihr bisheriges traditionell unauffälliges Leben, das sie als heiratsfähiges Mädchen zu leben hatte.

Der Engel bringt keinen Frieden
Was Maria auch immer sah und hörte, es war nicht von dieser Welt und erschreckte sie zutiefst. Es würde uns wohl nicht anders ergehen. Die Worte des Engels müssen Maria wie Hammerschläge getroffen haben. Heiliger Geist werde über sie kommen und sie werde schwanger werden, einen Sohn zur Welt bringen, Jesus sollte sie ihn nennen, Sohn des Höchstens, Gottes Sohn… Versetzen wir uns in Maria den Teenager, wie sollte sie begreifen wie ihr und was ihr gerade geschah. Aber eins ahnte sie mit Sicherheit: Wenn das eben Verkündete, Ungeheuerliche eintreffen sollte, dann war’s das gewesen mit dem künftigen Leben an der Seite ihres Verlobten. Denn die unabwendbare Konsequenz der Ankündigung einer – ganz offensichtlich – illegitimen Schwangerschaft war ihr Ende. Nicht nur das Ende ihrer sozialen Stellung und der Beziehung mit Josef, es war das Ende von allem. Sie war verlobt, rechtlich galt sie als verheiratet. Schwanger zu sein von einem anderen Mann bedeutete in ihrer Situation Ehebruch. Maria drohte die familiäre und gesellschaftliche Ächtung, schlimmstenfalls gar die Steinigung.
Der Engel ging, Maria blieb. Schwanger. Wie verheissen. Nach den ersten Monaten, in denen Maria vielleicht noch zu hoffen wagte, dass die Erscheinung nur ein böser Traum gewesen sein mochte, wurde die Schwangerschaft zur sichtbaren Gewissheit. Irgendwann liess sich der Bauch nicht mehr verbergen. Spätesten zu diesem Zeitpunkt musste sie Josef die unglaubliche Geschichte zumuten. Zu überzeugen vermochte sie ihn nicht. Wen wundert’s. «Gott macht keine solche Dinge mit Leuten wie uns», ist die lapidare Reaktion des schockierten Josefs in einer Bibelverfilmung und widerspiegelt wohl durchaus naheliegend die Gefühlslage eines abgrundtief enttäuschten Bräutigams. Die «Mission impossible», den geerdeten jungen Mann von der Wahrheit dieser verrückten Geschichte zu überzeugen und ihn davon abzuhalten, seine schwangere Verlobte aus der Verlobung zu entlassen, musste wiederum der Himmel übernehmen. So erschien ein Engel auch Josef und dieser schluckte die bittere Pille, die ihm der Bote zukommen liess. Was blieb ihm auch anderes übrig? Vielleicht, kam da die Reise nach Bethlehem gerade rechtzeitig. Rom wollte, dass sich jeder im Heimatort in eine Steuerliste eintragen liesse. Gewohnt den Anordnungen der römischen Besatzungsmacht zu gehorchen, machte sich Josef mit der inzwischen hochschwangeren Maria auf die Reise von Nazareth nach Bethlehem.

Eine miserable göttliche Planung
Hätte Maria das Vorhaben mit einer Gynäkologin besprochen, wäre sie nie auf den Esel gehockt. Vor ihnen lagen gegen 160 Kilometer Wegstrecke über Gebirge und durch Wüste, auf unbewachten, gefährlichen Schotterpisten. Nachts sanken die Temperaturen in den Minusbereich, tagsüber brannte die Sonne unbarmherzig. Und das Tag für Tag, Nacht für Nacht, zwei, vielleicht sogar drei Wochen lang… Was für eine Zumutung. Die Frage muss erlaubt sein: Hätte der allmächtige Gott die Umstände für die Geburt seines Sohnes nicht besser planen können? Schlechtes Timing der himmlischen Logistik. Und in Bethlehem wartete bereits die nächste Zumutung, nämlich das nackte Chaos. Die Infrastruktur war in dem kleinen Kaff aufgrund der vielen zusätzlichen Menschen an ihre Grenzen gekommen und offensichtlich war das heilige Paar schlicht zu spät für einen Platz in einer einigermassen anständigen Unterkunft. Was übrig blieb war ein Stall, wahrscheinlich eher ein Felsloch, in dem man Tiere versorgte. Unter diesen unzumutbaren hygienischen Umständen, inmitten des Mistes von schnaubendem Vieh, gebiert der Teenager Maria ihr erstes Kind. Und nicht irgendein Kind, nein, den Sohn Gottes. Wäre die Szene durch tausendfache Wiederholung nicht dermassen abgeschliffen und uns vertraut, wir würden das Geschehen, ohne zu zögern, als grotesk bezeichnen. Und wiederum kann man sich des Eindrucks nicht erwehren: Eine Geburt unter solch prekären Umständen wirft das denkbar schlechteste Licht auf die göttliche Planung, eines Gottessohnes schlicht unwürdig. Wie Geburten im menschlichen Hochadel – die doch zumindest als Referenzwert für die Geburt des Gottessohnes gelten könnten – akribisch genau und detailversessen geplant und zelebriert werden, das demonstriert niemand perfekter als der britische Hof: Im leegeräumten Flügel des besten Spitals in London unter Wahrung höchster Sicherheitsstandards und in Gegenwart der erfahrensten Ärztinnen, erblickt der blaublütige Nachwuchs das Licht der Welt… Was für ein Kontrast zum stinkenden, blökenden Umfeld des Felsenlochs in Bethlehem. Nicht auszuschliessen, dass Maria überdies während der Entbindung mehr oder weniger sich selbst überlassen war, bestenfalls unterstützt von älteren Frauen.

Die Geburt Gottes bringt Schrecken und Tod
So sehr man der jungen Familie eine sorgenfreie Rückkehr nach Nazareth gegönnt hätte, gab es wohl keine ausgedehnte Verschnaufpause vor der nächsten Zumutung: Zwar lässt sich der exakte Zeitpunkt der folgenden Ereignisse aus dem Text bei Matthäus nicht eindeutig bestimmen doch wird deutlich, dass sich erneut dunkle Wolken zusammenziehen: Josef erscheint im Traum erneut ein Engel, der ihn auffordert mit Maria und Jesus nach Ägypten zu fliehen, da der paranoide Herodes versuchen würde, ihr Kind umzubringen… Wie wohl Maria auf diese Ankündigung reagiert hat? Panisch, zumindest sorgenvoll, gestresst? Wem würde es nicht gleich ergehen, denn vor ihnen stand erneut eine unglaublich strapaziöse Reise in eine ungewisse Zukunft als Flüchtlinge in einem fremden Land, in dem sie niemand mit offenen Armen willkommen heissen würde. Das folgende traumatische Kapitel der postnatalen Weihnachtsgeschichte kennen wir: Die Eltern entkommen mit dem Jesuskind den Schergen des Herodes, nicht aber die anderen Buben in Bethlehem und Umgebung. Die Abschlachtung von ungezählten Knaben unter zwei Jahren ist dermassen verstörend, dass dieser fürchterliche Horror kaum je in einer Weihnachtserzählung erwähnt wird. Doch auch dies gehört zur weihnachtlichen Botschaft: Gott kommt in die Welt und mit ihm Tod, Verderben und unsägliches Leid. Kinder werden ermordet, Mütter verzweifeln, Väter stürzen in bodenlose Trauer.

Weihnachten kompakt: Schmerz, Leid, Tod und Trauer
Weihnachten ist anstössig. Skandalös. Eine unerträgliche Zumutung. – Dies ist die Weihnachtsgeschichte, wenn wir es wagen, sie vom jahrhundertalten religiösen Kitsch befreit und ungeschönt zu hören. Noch einmal verdichtet zusammengefasst: Ein weiblicher Teenager wird ungewollt schwanger, was sie in ihrem religiös und kulturell konservativen Lebensumfeld in akute Lebensgefahr bringt. Dank der, nicht ganz freiwilligen, Barmherzigkeit ihres Verlobten entkommt die junge Frau der sozialen Verbannung oder Schlimmerem, doch für ihre Familie ist sie eine Schande und für ihren Mann eine Demütigung. Hochschwanger, von ihrem Umfeld verurteilt und geschmäht, wird die junge Frau einer gefährlichen und hochstrapaziösen Reise ausgesetzt, an deren Ende sie unter unwürdigen Umständen gebären muss. Nach einer unbestimmten Zeit sind die Eltern gezwungen, mit dem kleinen Jesus zu fliehen, währenddessen am Geburtsort – wegen ihrem Kind, dem menschgewordenen Gott – an einer unbekannten Anzahl von Kleinkindern ein Massaker verübt wird und andere Mütter, Väter und Verwandte in unvorstellbares Leid gestürzt werden. Das ist Weihnachten.

Erlösung durch Schmerz und Leid – das Geheimnis des Glaubens beginnt mit der Weihnachtsgeschichte
Eigentlich bleibt nur Sprachlosigkeit. Wenn da nicht die eine Frage brennen würde: Warum all diese Zumutungen, warum all das unfassbare Leid und all der Schmerz, wenn Gott als Mensch geboren wird? Vielleicht spüren wir, dass die Botschaft hinter der vordergründigen Geschichte, das Eigentliche, das da geschieht, zu gross ist, als dass wir es wirklich oder auch nur annähernd zu verstehen vermögen. Darum sollten wir Antworten lediglich erahnen: Es sind Antworten, die wir ausgerechnet im Betrachten von menschlichem Schmerz und Leid entdecken, denn es ist eine menschliche, vielleicht sogar die menschlichste aller menschlichen Erfahrungen: Schmerz wird durch menschliche Nähe gelindert. Der Schmerz des aufgeschlagenen Knies wird auf dem Schoss der Mutter weniger, die Trauer über die zerbrochene Beziehung in den Armen der Freundin getröstet. Niemals erleben wir mehr menschliche Nähe und Verbundenheit als im Teilen unseres Schmerzes und unseres Leids. Und so ahnen wir: Weil Gott uns nahekommen will, um unseren Schmerz mit uns zu teilen, zu lindern und letztlich zu überwinden, darum kommt er uns so nahe wie nur möglich, darum wird er Mensch. Doch ebenso wird uns ahnend bewusst, dass im leidvollen Geschehen der Weihnachtsgeschichte, im Moment der Menschwerdung Gottes, das gebrochene Wesen des Menschen in seiner ganzen leidvollen und leidverursachenden Verlorenheit offenbar wird. In der Ankunft Gottes, der Geburt Jesu, trifft das Heile auf das Unheile oder besser: der Heilige offenbart das Unheile der Unheiligen. Und so wird der abgründige Schrecken der Gottverlorenheit unserer Welt im so vielfältigen Leid und Schmerz der Weihnachtsgeschichte von den beteiligten Menschen erfahren und durchlitten. Doch Weihnachten ist erst der Anfang der Geschichte und so ist es eines der tiefsten Geheimnisse des christlichen Glaubens, das uns nicht erst im Kreuz Jesu, sondern bereits in der Geburtsgeschichte entgegenkommt: Erlösung geschieht durch die dunkle Notwendigkeit des Leidens, des geteilten Leidens und darum des Mitleidens. Erlösung geschieht, indem Gott sich selbst dem Schmerz und dem Leid des Menschseins durch seine Menschwerdung aussetzt und Schmerz und Leid so mit uns Menschen teilt, um es in letzter Konsequenz – durch das Kreuz hindurch – in seiner Auferstehung zu überwinden. Durch seine erlösende Teilhabe – «und das Wort wurde Fleisch» – an unserem Schmerz und Leid, werden wir aber auch Teil von Gottes Leiden. Genau dies musste Maria vom ersten Moment der schockierenden, ihr Leben gefährdenden Verkündigung, über die Geburt unter misslichsten Bedingungen, bis hin zum letzten verzweifelten Schrei ihres Sohnes am Kreuz erleben oder treffender: erleiden. So wurde sie zur Mitleidenden Gottes. Und ebenso sagt uns beim Betrachten der Lebensgeschichte Jesu das Geheimnis des Glaubens: Im Menschen Jesus leidet Gott an uns und mit uns – und dies ab dem ersten Moment der Geburt bis zum Sterben am Kreuz. So wie Gott an uns und mit uns Menschen leidet, so wird für Maria und für jeden Glaubenden das Leiden Gottes zum eigenen Leiden. Seitdem Menschen dem Geschehen im Evangelium begegnen, leiden sie mit Gott in seiner Menschwerdung; in seinem leidvollen Werdegang durch eine zerbrochene Schöpfung, ebenso ab dem ersten Moment der Menschwerdung unter leidvollen Umständen bis zum elenden Tod am Kreuz. Doch – und dies ist das innerste Geheimnis des christlichen Glaubens – ohne dieses Leiden in der Menschwerdung Gottes gäbe es keine letztendliche Überwindung von Leid und Tod, die durch das Kreuz und die Auferstehung des Menschen- und Gottessohnes Jesus Christus für uns ermöglicht wurde. So sehr die Menschwerdung Gottes unlösbar mit menschlichem Leid und Schmerz verwoben ist, so sehr darf uns im Betrachten der Weihnachtsgeschichte bewusstwerden: Das Hineinkommen Gottes in unsere Welt erzeugt Schmerz und Leid, ja sogar den Tod. Doch gerade dieses leidvolle Hineinkommen eröffnet die Perspektive für das letztendliche Überwinden von Schmerz, Leid und Tod. Vielleicht gelingt es uns, in diesem Jahr beim Anblick der Krippe und dem damit verbundenen so vielfältigen Schmerz das vielfach durchlebte Leid der letzten beiden Pandemiejahre in einem anderen, tröstlichen Licht zu sehen. Weil Gott mitleidender Mensch wird, haben weder Leid noch Geschrei noch Schmerz, ja selbst nicht der Tod das letzte Wort.

Pfr. Markus Giger, Weihnachten 2021, Zürich

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Essay: «Bitter enttäuscht»

Talk zu „Bitter enttäuscht“ vom 7.4.2021

Ein Pfarrer glaubt an Gott. Ein Gott, der etwas bewirken kann. Verändern. Verbessern. Heilen. Der Arzt glaubt ja auch an die Wirksamkeit seiner Medikamente. Sonst würde er sie nicht verschreiben. Wenn ich auf die letzten 25 Jahre meines Pfarrerseins zurückblicke, scheint der Glaube oft wie ein Placebo zu wirken. Wikipedia nennt es Scheinmedikament, ein Arzneimittel, das keinen Arzneistoff enthält und somit keine Wirkung hat.

Kein Wunder bleibt Enttäuschung zurück. Das gleiche gilt für meinen Glauben. Nicht immer, aber oft. Enttäuschung über all die begleiteten Menschen, die mit Gott neu anfangen wollten und trotzdem scheiterten. Enttäuschung auch über Gottes Glaubenshelden: David, Petrus, Paulus; wer genau hinschaut sieht Menschen, die zeitlebens mit bösen Charakterschwächen zu kämpfen hatten. Und bei mir?… sieht es nicht viel besser aus. Darum: Vieles spricht für den Abschied vom Glauben. Und trotzdem glaube ich weiter. Trotzig halte ich an Gott fest, der selbst mit seiner Mission an uns gescheitert ist. Ein solcher Entscheid muss begründet werden. Darum ist das vorliegende Essay entstanden.

Pfr. Markus Giger

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Kirche, wie Jesus sie gemeint hat.

Unser Pfarrer, Markus Giger, hat mit Radio Life Channel darüber gesprochen, wie er Kirche versteht. Ein spannender Einblick in das, was uns als Streetchurch seit fast 20 Jahren prägt und herausfordert. 
https://radio.lifechannel.ch/menschen/geschichten/talk/kirche-wie-jesus-sie-gemeint-hat/

Radio Life Channel 17.11.2020

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Scheitern – Über das nötige Feintuning des Lebens.

Was wir in der Box eines Formel 1 Teams für den Umgang mit unserem Scheitern lernen können.

Ich gestehe es unverhohlen, ich geniesse das ungläubige Staunen in den Gesichtern, wenn ich nach meinem ersten Berufswunsch gefragt werde und ich mit einem breiten Grinsen über meine jugendlichen Ambitionen berichten darf: Formel 1 Rennfahrer wollte ich werden und nichts Anderes. Kompromisslos hielt ich bis in die Teenagerjahre daran fest. Nun, heute fahre ich einen elektrischen Renault Zoe, übe mich unter mitleidig spöttischen Blicken in Demut und träume von meinem Maseratti Ghibli, was ich jedoch weit weniger offenherzig kund tue wie meinen damaligen Berufswunsch, ist mir doch bewusst, dass ich mich als Pfarrer – allein schon mit diesem klimaschädigenden Traum – jenseits aller tolerierbaren Extravaganzen befinde, die der durchschnittlich verantwortungsvolle Zeitgenosse bereit wäre, einem Kirchenvertreter zuzugestehen.

Wie immer man meine Affinität zu PS-protzenden Untersätzen deuten will, eines habe ich in diesen rennbegeisterten Jugendjahren gelernt: Pole Positions oder gar Siege sind nie allein der Verdienst des Fahrers. Hinter diesen Erfolgen steht immer ein ganzes Team mit dem unbedingten Willen zum Erfolg. Ganz besonders fasziniert haben mich die Präsentationen der neuen Boliden am Anfang der Saison. Während endlosen Testrunden wurden der neue Wagen optimiert, Fehler korrigiert, Reifen ausprobiert und die unzähligen Komponenten aufeinander abgestimmt. Das Erstaunliche dabei: Oft war das neue Modell zu Beginn dieser Testserie langsamer als das Vorgängermodell, erst nachdem die typischen Kinderkrankheiten ausgemerzt waren, wurden die besseren Rundenzeiten erzielt. Dabei ist dem ganzen Rennstall und jedem einzelnen Mitarbeitenden in der Box bewusst: Das kann nicht anders sein, diese Schwierigkeiten im Umgang mit dem neuen Wagen sind selbstverständlich, denn dieser ist nichts anderes als ein Rohdiamant, der zuerst geschliffen werden muss. Und das bedeutet Arbeit. Eine spannende und herausfordernde Arbeit, in dem Fahrer, Ingenieure und Techniker aufs Engste zusammenarbeiten. Karl Barth soll einmal gesagt haben, dass sich jeder Mensch in einem endlos variierten Versuch befinde, glücklich zu werden. Das entspricht so ziemlich genau dem Vorgehen eines Formel 1 Teams, wenn es sich an die Arbeit macht, den neuen Rennwagen für die bevorstehende Weltmeisterschaft fit zu trimmen.

In den vielen Jahren, in denen wir junge Menschen begleiten, haben wir gelernt, die alltäglichen Rückschläge in der Streetchurch in Analogie zu den Bemühungen in einem Formel 1 Team zu sehen. Wir versuchen dabei das Wort «Scheitern» mit seiner eindeutig negativen und demotivierenden Konnotation zu vermeiden. In all den vielen Ereignissen, die man gemeinhin als Scheitern bezeichnet, sehen wir – neben dem Schmerzhaften und Mühsamen – auch immer das Potential für die nötigen Veränderungen bzw. Modifikationen, die vorgenommen werden müssen, um ein einigermassen gelingendes Leben zu verwirklichen. (Wer kann schon von einem rundum gelungenen Leben berichten?) Gerade dann, wenn sich Menschen zu einem Neustart im Leben entschliessen ist es so, wie wenn sie sich in ein neues Formel 1 Modell setzen: Die ersten Runden laufen alles andere als rund; das neue Leben passt alles andere wie angegossen, das Umgewöhnen oder gar Abgewöhnen von alten Gewohnheiten fällt schwer, es passieren Fehler, vielleicht bricht der Wagen gar aus, touchiert die Leitblanken… Rückschläge sind an der Tagesordnung und oft erleben wir es, wie unsere Rennfahrerinnen und Rennfahrer ihr brandneues Leben frustriert zurück in die Streetchurch-Box steuern und am liebsten aussteigen wollen. Doch entscheidend ist in diesen Momenten einzig und allein, dass sie ihren – vielleicht bereits wieder arg beschädigten Boliden – zurück in die Streetchurch-Box steuern: Denn hier warten Menschen, die wie ein Formel 1 Team funktionieren und die sich mit Hingabe an die Arbeit machen: Ist etwas beschädigt, wird es selbstverständlich ausgewechselt – selbst wenn es das sieben Mal siebzigste Mal sein sollte – wie sonst sollten wir unser gemeinsames Ziel erreichen? Um zu erfahren, was noch nicht stimmt, führen unsere Teilnehmerinnen mit ihren Coaches intensive Gespräche und gemeinsam entscheiden sie, welche Änderungen vorgenommen werden müssen. Und ja, es wird auch über Fahrerfehler gesprochen. Ziel ist und bleibt, aus dem neu gestarteten Leben das Beste herauszuholen. Dabei ist uns sehr wohl bewusst, dass nicht jede ganz vorne mitfahren kann, aber jeder kann Fortschritte erzielen. Wie weit es im Leben, das ja schon Paulus mit einem Wettlauf verglichen hat, jemand bringen wird, das wissen wir nicht. Manchmal sind die Veränderungen oder besser: die Verbesserungen bescheiden. Aber auch über diese bescheidenen Fortschritte freuen wir uns und ich denke, dass es den Mitarbeitenden des nicht gerade verwöhnten „Alfa Romeo Racing Teams“ in der Formel 1 nicht anders ergeht, wenn sie – vielleicht wider Erwarten – einen Punkt nach Hause fahren. Wir sehen es ganz ähnlich: Hauptsache, wir bewegen uns miteinander und zwar vorwärts. Und wenn es wieder einmal, allen Anstrengungen zum Trotz, rückwärts anstatt vorwärts geht, dann halten wir als Team zusammen, weil es uns alle betrifft. In solchen Momenten fühlen wir, was Paulus meinte, wenn er der christlichen Gemeinde in Korinth schrieb:

«Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit.»

Es gibt wenige Credos in den Programmen der Streetchurch, aber das eine Credo kennen alle: Wir halten durch und zwar gemeinsam; egal wie miserabel es läuft, wir machen weiter und wir geben nicht auf. Eine solche Haltung funktioniert nur im Team das sich als verschworene Gemeinschaft versteht.

So sehen wir das mit dem Scheitern in der Streetchurch: Wir erkennen darin Chance und Herausforderung zugleich, als ganze Gemeinschaft weiter zu kommen, indem wir gemeinsam an Fehlern und Schwächen des Einzelnen arbeiten. Wir tun dies so unaufgeregt wie möglich, weil wir überzeugt sind, dass der selbstverständliche Umgang mit dem Scheitern ein konstruktives und positives Klima in unserer Gemeinschaft erzeugt, was wiederum eine ideale Voraussetzung für die nötigen Veränderungen des Einzelnen ist. Was diesen Veränderungen aber diametral entgegensteht, weil es jeden Fortschritt und jede positive Veränderung verhindert: Schwierigkeiten zu verschweigen und Fehler zu vertuschen. Wir machen das unseren «Fahrerinnen» immer und immer wieder bewusst: Ihr könnt ausrufen, die Hände verwerfen und auch mal etwas durch die Streetchurch-Box werfen, das alles hat Platz, gehört einfach dazu, nur bitte: verschweigt nichts und vertuscht nichts – schon gar nicht die eigenen Fahrfehler – und mag es euch noch so sehr frustrieren oder peinlich sein, denn dann hindert ihr das ganze Team vorwärts zu kommen.

Es ist uns durchaus bewusst, dass dieser Ansatz, wie wir mit dem Scheitern von uns Menschen umgehen, Kritik auslösen kann: Nehmen wir die Konsequenzen, das menschliches Fehlverhalten nach sich ziehen kann ernst genug? Negieren wir mit diesem selbstverständlichen Umgang mit menschlichen Schwächen und Fehlern nicht die Verantwortung für unser Handeln? Es ist so: Das Scheitern des Menschen ist oft auch Ausdruck oder Folge von fehlendem Verantwortungsbewusstsein und gerade im Hinblick auf die Auswirkungen auf das menschliche Zusammenleben alles andere als banal. Doch die entscheidende Frage bleibt: Wie verhalten wir uns, damit die Menschen, die uns anvertraut sind, gegenüber sich selbst und gegenüber ihren Mitmenschen ein verantwortungsbewusstes Handeln einüben können? Oder anders formuliert: Wie müssen wir uns verhalten, damit sich unsere Mitmenschen möglichst effektiv und erfolgversprechend von destruktiven Verhaltensmustern lösen können? Unsere Erfahrung ist: Am eindrücklichsten sind die Veränderungen gerade dann, wenn Menschen das Scheitern als unvermeidliche Begleiterscheinung des Lebens annehmen dürfen und dabei erfahren, wie das gemeinsame Arbeiten an Fehlern sie als Individuen weiterbringt und gleichzeitig die Gemeinschaft, die diese Haltung teilt, reifer und tragfähiger werden lässt

Pfr. Markus Giger

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Die Therapie für die Kirche heisst Versöhnung leben

Propheten haben es bekanntlich schwer in ihrem Heimatland. Nicht anders erging es dem Zürcher Theologieprofessor Emil Brunner. Vor bald 60 Jahren hat er geradezu prophetisch der Kirche ihr Leiden diagnostiziert:

«Was den modernen Menschen interessiert, ist einerseits die Frage nach sich selbst, nach dem Sich-selbst-Finden, die Frage danach, wie er mit seinen persönlichen Problemen fertig werden kann, andererseits die Frage nach der Gestaltung der Gemeinschaften, in denen er lebt, die sogenannte soziale Frage. Eine Kirche aber, die ihm nur als Institution begegnet, die um ihres angeblichen Gotteswortes willen existiert und ausschliesslich auf diesen Zweck hin ausgerichtet ist, die ihn also weder selbst in eine Gemeinschaft einschliesst noch zum Problem der Gemeinschaftsgestaltung etwas Erhebliches zu sagen hat, ist ihm von vornherein unglaubwürdig. Er mag darum auch ihr Wort nicht hören… Darum ist die Predigt, hinter der keine Gemeinschaft, sondern bloss eine Institution steht, unglaubwürdig.
Die Predigt des Evangeliums ist also nicht zu trennen vom Sein der Ekklesia als Gemeinschaft… Die Gemeinschaftslosigkeit der Institution «Kirche», ihr Auseinanderreissen von Reden und Sein, ist der tiefste Grund, warum so viele heutige Menschen ihr den Rücken kehren.»

Emil Brunner, Dogmatik Band 3, 124f, Zürich, 1960

Wir von der Kirche haben wohl auf die Diagnose reagiert und allerlei Therapien sind der Patientin verschrieben worden: So wurden Gottesdienste formal neu dosiert, eine Unzahl von mehr oder weniger nährenden Aktivitäten wurde entwickelt und aktuell sucht man das Heil für die von der Schwindsucht gezeichnete Kirche in langwierigen Strukturtherapien. Doch allen Bemühungen zum Trotz: Richtig besser will es der Patientin nicht gehen. So einhellig der Diagnose Brunners zugestimmt wird, so wenig scheint man willens oder fähig, sich der naheliegenden Therapie, die sich aus seinen Worten ergeben, zu stellen:

«Die Kirche als versöhnende Gemeinschaft, in der sich Reden und Sein entsprechen.»


Emil Brunner fordert als Therapie nichts weniger, als dass sich die Menschen der Kirche mit ganzer Hingabe um die Entsprechung von Reden und Sein, von Wort und Tat bemühen. Das Reden vom Glauben muss sich im Handeln der Kirche «inkarnieren». Nur so können Menschen die Kirche wieder als Ort der heilsamen Gemeinschaft entdecken.
In der Streetchurch versuchen wir diese Entsprechung tagtäglich umzusetzen. Dabei leitet uns eine faszinierende Beobachtung: Worte und Taten Jesu interpretieren sich gegenseitig. So entsprechen die Handlungen Jesu in einer interpretierenden Weise seinen Worten, genauso wie seine Worte sein Handeln klärend und erklärend auslegen. In dieser faszinierenden Entsprechung von Reden und Sein liegt wohl einer der Gründe für die überwältigende Anziehungskraft Jesu. «Und das Worte wurde Fleisch und wohnte unter uns.» Joh 1,14.

Genau dies ist unsere Erfahrung: Wenn Menschen erleben, wie wir darum ringen, Versöhnung tagtäglich in unser und in ihr Leben «hineinzuleben», dann beginnen sie sich für die Kirche zu interessieren – oder besser: für das, was Kirche im Sinne ihres Stifters sein soll, nämlich eine Gemeinschaft, in der sich Menschen mit Gott, ihren Mitmenschen und mit ihrem eigenen, oft von Brüchen gezeichneten Leben versöhnen dürfen.

Je länger wir miteinander und füreinander unterwegs sind, desto klarer wird uns die Sendung Jesu: Jesus teilte sich den Menschen aus. In seinem Reden, in seinem Handeln. Ganz und gar, bis zum Äussersten. Und auch da gilt wieder: Das Kreuz erfüllt die Worte Jesu beim letzten Abendmahl, und diese Worte deuten das Geschehen am Kreuz noch heute für uns, die wir ihm nachfolgen. Nachfolgen sollen wir ihm und dabei uns austeilen an die Menschen in unserer Zeit. Ganz und gar. Auf dass Versöhnung geschehe in einer Zeit voll von Unversöhnlichem. Darum geht es in der Gemeinschaft, die sich als Kirche in der Nachfolge Jesu Christi versteht. Wenn wir diese versöhnende Gemeinschaft leben, wird die Kirche gesunden. Und: Eine gesunde Kirche tut unserer Gesellschaft gut.