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Theologie

Scheitern – Über das nötige Feintuning des Lebens.

Was wir in der Box eines Formel 1 Teams für den Umgang mit unserem Scheitern lernen können.

Ich gestehe es unverhohlen, ich geniesse das ungläubige Staunen in den Gesichtern, wenn ich nach meinem ersten Berufswunsch gefragt werde und ich mit einem breiten Grinsen über meine jugendlichen Ambitionen berichten darf: Formel 1 Rennfahrer wollte ich werden und nichts Anderes. Kompromisslos hielt ich bis in die Teenagerjahre daran fest. Nun, heute fahre ich einen elektrischen Renault Zoe, übe mich unter mitleidig spöttischen Blicken in Demut und träume von meinem Maseratti Ghibli, was ich jedoch weit weniger offenherzig kund tue wie meinen damaligen Berufswunsch, ist mir doch bewusst, dass ich mich als Pfarrer – allein schon mit diesem klimaschädigenden Traum – jenseits aller tolerierbaren Extravaganzen befinde, die der durchschnittlich verantwortungsvolle Zeitgenosse bereit wäre, einem Kirchenvertreter zuzugestehen.

Wie immer man meine Affinität zu PS-protzenden Untersätzen deuten will, eines habe ich in diesen rennbegeisterten Jugendjahren gelernt: Pole Positions oder gar Siege sind nie allein der Verdienst des Fahrers. Hinter diesen Erfolgen steht immer ein ganzes Team mit dem unbedingten Willen zum Erfolg. Ganz besonders fasziniert haben mich die Präsentationen der neuen Boliden am Anfang der Saison. Während endlosen Testrunden wurden der neue Wagen optimiert, Fehler korrigiert, Reifen ausprobiert und die unzähligen Komponenten aufeinander abgestimmt. Das Erstaunliche dabei: Oft war das neue Modell zu Beginn dieser Testserie langsamer als das Vorgängermodell, erst nachdem die typischen Kinderkrankheiten ausgemerzt waren, wurden die besseren Rundenzeiten erzielt. Dabei ist dem ganzen Rennstall und jedem einzelnen Mitarbeitenden in der Box bewusst: Das kann nicht anders sein, diese Schwierigkeiten im Umgang mit dem neuen Wagen sind selbstverständlich, denn dieser ist nichts anderes als ein Rohdiamant, der zuerst geschliffen werden muss. Und das bedeutet Arbeit. Eine spannende und herausfordernde Arbeit, in dem Fahrer, Ingenieure und Techniker aufs Engste zusammenarbeiten. Karl Barth soll einmal gesagt haben, dass sich jeder Mensch in einem endlos variierten Versuch befinde, glücklich zu werden. Das entspricht so ziemlich genau dem Vorgehen eines Formel 1 Teams, wenn es sich an die Arbeit macht, den neuen Rennwagen für die bevorstehende Weltmeisterschaft fit zu trimmen.

In den vielen Jahren, in denen wir junge Menschen begleiten, haben wir gelernt, die alltäglichen Rückschläge in der Streetchurch in Analogie zu den Bemühungen in einem Formel 1 Team zu sehen. Wir versuchen dabei das Wort «Scheitern» mit seiner eindeutig negativen und demotivierenden Konnotation zu vermeiden. In all den vielen Ereignissen, die man gemeinhin als Scheitern bezeichnet, sehen wir – neben dem Schmerzhaften und Mühsamen – auch immer das Potential für die nötigen Veränderungen bzw. Modifikationen, die vorgenommen werden müssen, um ein einigermassen gelingendes Leben zu verwirklichen. (Wer kann schon von einem rundum gelungenen Leben berichten?) Gerade dann, wenn sich Menschen zu einem Neustart im Leben entschliessen ist es so, wie wenn sie sich in ein neues Formel 1 Modell setzen: Die ersten Runden laufen alles andere als rund; das neue Leben passt alles andere wie angegossen, das Umgewöhnen oder gar Abgewöhnen von alten Gewohnheiten fällt schwer, es passieren Fehler, vielleicht bricht der Wagen gar aus, touchiert die Leitblanken… Rückschläge sind an der Tagesordnung und oft erleben wir es, wie unsere Rennfahrerinnen und Rennfahrer ihr brandneues Leben frustriert zurück in die Streetchurch-Box steuern und am liebsten aussteigen wollen. Doch entscheidend ist in diesen Momenten einzig und allein, dass sie ihren – vielleicht bereits wieder arg beschädigten Boliden – zurück in die Streetchurch-Box steuern: Denn hier warten Menschen, die wie ein Formel 1 Team funktionieren und die sich mit Hingabe an die Arbeit machen: Ist etwas beschädigt, wird es selbstverständlich ausgewechselt – selbst wenn es das sieben Mal siebzigste Mal sein sollte – wie sonst sollten wir unser gemeinsames Ziel erreichen? Um zu erfahren, was noch nicht stimmt, führen unsere Teilnehmerinnen mit ihren Coaches intensive Gespräche und gemeinsam entscheiden sie, welche Änderungen vorgenommen werden müssen. Und ja, es wird auch über Fahrerfehler gesprochen. Ziel ist und bleibt, aus dem neu gestarteten Leben das Beste herauszuholen. Dabei ist uns sehr wohl bewusst, dass nicht jede ganz vorne mitfahren kann, aber jeder kann Fortschritte erzielen. Wie weit es im Leben, das ja schon Paulus mit einem Wettlauf verglichen hat, jemand bringen wird, das wissen wir nicht. Manchmal sind die Veränderungen oder besser: die Verbesserungen bescheiden. Aber auch über diese bescheidenen Fortschritte freuen wir uns und ich denke, dass es den Mitarbeitenden des nicht gerade verwöhnten „Alfa Romeo Racing Teams“ in der Formel 1 nicht anders ergeht, wenn sie – vielleicht wider Erwarten – einen Punkt nach Hause fahren. Wir sehen es ganz ähnlich: Hauptsache, wir bewegen uns miteinander und zwar vorwärts. Und wenn es wieder einmal, allen Anstrengungen zum Trotz, rückwärts anstatt vorwärts geht, dann halten wir als Team zusammen, weil es uns alle betrifft. In solchen Momenten fühlen wir, was Paulus meinte, wenn er der christlichen Gemeinde in Korinth schrieb:

«Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit.»

Es gibt wenige Credos in den Programmen der Streetchurch, aber das eine Credo kennen alle: Wir halten durch und zwar gemeinsam; egal wie miserabel es läuft, wir machen weiter und wir geben nicht auf. Eine solche Haltung funktioniert nur im Team das sich als verschworene Gemeinschaft versteht.

So sehen wir das mit dem Scheitern in der Streetchurch: Wir erkennen darin Chance und Herausforderung zugleich, als ganze Gemeinschaft weiter zu kommen, indem wir gemeinsam an Fehlern und Schwächen des Einzelnen arbeiten. Wir tun dies so unaufgeregt wie möglich, weil wir überzeugt sind, dass der selbstverständliche Umgang mit dem Scheitern ein konstruktives und positives Klima in unserer Gemeinschaft erzeugt, was wiederum eine ideale Voraussetzung für die nötigen Veränderungen des Einzelnen ist. Was diesen Veränderungen aber diametral entgegensteht, weil es jeden Fortschritt und jede positive Veränderung verhindert: Schwierigkeiten zu verschweigen und Fehler zu vertuschen. Wir machen das unseren «Fahrerinnen» immer und immer wieder bewusst: Ihr könnt ausrufen, die Hände verwerfen und auch mal etwas durch die Streetchurch-Box werfen, das alles hat Platz, gehört einfach dazu, nur bitte: verschweigt nichts und vertuscht nichts – schon gar nicht die eigenen Fahrfehler – und mag es euch noch so sehr frustrieren oder peinlich sein, denn dann hindert ihr das ganze Team vorwärts zu kommen.

Es ist uns durchaus bewusst, dass dieser Ansatz, wie wir mit dem Scheitern von uns Menschen umgehen, Kritik auslösen kann: Nehmen wir die Konsequenzen, das menschliches Fehlverhalten nach sich ziehen kann ernst genug? Negieren wir mit diesem selbstverständlichen Umgang mit menschlichen Schwächen und Fehlern nicht die Verantwortung für unser Handeln? Es ist so: Das Scheitern des Menschen ist oft auch Ausdruck oder Folge von fehlendem Verantwortungsbewusstsein und gerade im Hinblick auf die Auswirkungen auf das menschliche Zusammenleben alles andere als banal. Doch die entscheidende Frage bleibt: Wie verhalten wir uns, damit die Menschen, die uns anvertraut sind, gegenüber sich selbst und gegenüber ihren Mitmenschen ein verantwortungsbewusstes Handeln einüben können? Oder anders formuliert: Wie müssen wir uns verhalten, damit sich unsere Mitmenschen möglichst effektiv und erfolgversprechend von destruktiven Verhaltensmustern lösen können? Unsere Erfahrung ist: Am eindrücklichsten sind die Veränderungen gerade dann, wenn Menschen das Scheitern als unvermeidliche Begleiterscheinung des Lebens annehmen dürfen und dabei erfahren, wie das gemeinsame Arbeiten an Fehlern sie als Individuen weiterbringt und gleichzeitig die Gemeinschaft, die diese Haltung teilt, reifer und tragfähiger werden lässt

Pfr. Markus Giger