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Felipe: «Heute ertappe ich mich sogar dabei, dass ich in meiner Freizeit zu lernen beginne.»

«Selbst die Telefongespräche und Verwarnungsschreiben, die ich zu Beginn meiner Streetchurch-Zeit jeweils erhalten habe wenn ich nicht beim Top4Job-Programm erschienen bin, waren freundlich. Und als ich dann am Morgen endlich wieder auftauchte, waren die Leute nett zu mir – wie Freunde oder Familienangehörige. Statt mir den üblichen Der-hats-wieder-nicht-geschafft-Blick zuzuwerfen, gab man mir zu verstehen: «Yes, du bist hier!». Wo gibt’s das sonst?
Ich war es damals nicht gewohnt, am Morgen beizeiten aufzustehen. Ich wohnte in einer furchtbaren Unterkunft, pflegte schlechten Umgang, trank, kiffte und hatte mit allen Stress: mit meiner Familie, mit der Polizei, eben mit allen. Und wenn ich einmal zu Geld gekommen bin, habe ich damit bestimmt nichts Gescheites angestellt.

In der Sozialberatung wurde mir erklärt, dass man mir nur helfen könne, wenn ich verraten würde, was mit mir los sei. Ich schämte mich für den Berg von Unterlagen, den ich mitgebracht hatte: Mahnungen, Schulden, Betreibungen. Gemeinsam gingen wir die Sachen durch und meine Sozialberaterin erklärte mir, wie ich die Unterlagen in Zukunft sortieren kann. Vorher sah das aus wie Konfetti bei mir. Mit ein paar Telefonaten sorgte sie dafür, dass plötzlich keine neuen Mahnungen mehr reingeflattert kamen. Es war, als ob jemand Pause gedrückt hätte.
Ich begann, mich langsam zu verändern. Das lag sicher auch an den vielen guten Gesprächen, die mich manchmal zum Weinen, aber oft auch zum Lachen gebracht haben, was mir sehr gut tat. Irgendwann hat es dann klick gemacht und ich sah für mich wieder eine Zukunft. Ich begann, meine Schulden abzubezahlen, arbeitete motiviert und fand eine Lehrstelle als Schreinerpraktiker. Auch mit meiner Familie habe ich mich versöhnt.
Heute ertappe ich mich sogar dabei, dass ich in meiner Freizeit den Schulordner hervornehme und zu lernen beginne.»

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