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Kolumne

Versöhnung mit der eigenen Geschichte

Hier bin ich und schreibe. Ich schreibe. Das fühlt sich heute einigermassen okay an. Nicht so in der Vergangenheit. Umständlich. Mühsam. Eine Tortur. Für mich jedenfalls. Der Meister der Sprachnachrichten darf hier eine Kolumne schreiben. Schreiben!!!

Meine Hirnwindungen produzierten in Vergangenheit immer wieder die unglaublichsten Sätze – an der Grenze zur Genialität – dachte ich. Jedoch blieb ich häufig der Einzige, der diese nachvollziehen konnte. Durch die Primar- und Oberstufenzeit verfasste ich meine Texte mit dem Selbstwert eines gekränkten Vierjährigen. Immer im Wissen darum, dass das Geschriebene für den Leser oder die Leserin wohl unter die Kategorie „hat und gibt sich Mühe“ fällt. Das schmerzte und tangierte mein Selbstvertrauen stark. Noch heute gibt es Situationen, in denen ich schriftliche Aufgaben mit Öffentlichkeitscharakter am liebsten ausweichen würde. Was, wenn ich wieder korrigiert werde. Was, wenn meine Fähigkeiten in Frage gestellt werden? Was, wenn das beschriebene nicht verstanden wird?

Ich finde mich in verschiedenen Coachingsituationen mit jungen Menschen wieder, in denen schulische, aber auch persönliche Herausforderungen offengelegt werden. Viele dieser Menschen kommen aus komplexeren Geschichten und aus einem weniger stabilen Umfeld, als das bei mir der Fall ist.

Zum Beispiel der junge Mann, der mit sechs Jahren psychologisch abgeklärt wurde. Auf einen Schlag war seine übersprudelnde Energie in ein Label gepackt – ADHS. Stigmatisiert. Ein Sonderling. Es folgte eine Heimkarriere. Medikamente „stellten ihn ruhig“, wie er selbst sagt. Äusserlich ruhig, innerlich gekränkt. Mit 17 verweigerte er die Medikation. Landete auf der Strasse – obdachlos. Eine Karriere als Kleinkrimineller folgte.

In der Begleitung von ihm erleben wir viele Symptome, welche uns denken lassen, dass ADHS auch die grosse Herausforderung seines Erwachsenenlebens sein wird.
Etwas gegen das ADHS unternehmen – allenfalls mit einer gut eingestellten Medikation und mit Verhaltenstraining? „Nein, nicht nochmals professionelle Hilfe. Lieber erfolglos und auf dem Abstellgleis als stigmatisiert und medikamentiert“, so seine Aussage.

Kann ich es ihm verübeln? Nein. Kann ich das nachvollziehen? Teilweise. Schmerzt es zu sehen, dass er sich nicht professionell helfen lassen will? Sehr!

Wie reagiere ich nun darauf? In der Sache klar. „Ich glaube es ist wichtig, dass du dich auf diesen Prozess einlässt! Was sind deine nächsten Schritte?“ Und da ist noch die Beziehungsebene. Auch hier bin ich um Klarheit bemüht: „Ich sehe dein Leid. Ich nehme es ernst. Ich wünsche dir, dass du deine Ziele erreichen kannst. Ich bin da für dich.“

Nicht selten merke ich, dass die Geschichten unserer Teilnehmenden auch meine Geschichten sind. Häufig verkorkster und doch ähnlich. Erlebnisse von gebrochenen Menschen, welche verunsichert sind, an sich zweifeln oder gar verzweifeln und bisweilen eine Wut gegen die Welt entwickeln.

Erfahrungen aus der Streetchurch zeigen mir: Ernst genommene Ängste und die Anerkennung von gebeuteltem (Selbst-)Vertrauen, sind eine Grundlage zur Versöhnung mit der eigenen Geschichte. Ich erlebe, dass sich Personen positiv entwickeln können, wenn Menschen innerhalb der Gemeinschaft eigene Defizite und Nöte kennen, benennen und diese einander in einem vertrauensvollen Rahmen zumuten können. Wo Vertrauen ist, kann auch neues Selbstvertrauen erlangt werden. Alle drei Erfahrungen gelten für den selbstwertgekränkten Schreiberling, den Delinquenten und für alle anderen.
Diese Art von Gemeinschaft – in welcher Platz ist für persönlichen Not – ermöglicht Heilung und Versöhung. Das ist für mich: Streetchurch.

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Theologie

Scheitern – Über das nötige Feintuning des Lebens.

Was wir in der Box eines Formel 1 Teams für den Umgang mit unserem Scheitern lernen können.

Ich gestehe es unverhohlen, ich geniesse das ungläubige Staunen in den Gesichtern, wenn ich nach meinem ersten Berufswunsch gefragt werde und ich mit einem breiten Grinsen über meine jugendlichen Ambitionen berichten darf: Formel 1 Rennfahrer wollte ich werden und nichts Anderes. Kompromisslos hielt ich bis in die Teenagerjahre daran fest. Nun, heute fahre ich einen elektrischen Renault Zoe, übe mich unter mitleidig spöttischen Blicken in Demut und träume von meinem Maseratti Ghibli, was ich jedoch weit weniger offenherzig kund tue wie meinen damaligen Berufswunsch, ist mir doch bewusst, dass ich mich als Pfarrer – allein schon mit diesem klimaschädigenden Traum – jenseits aller tolerierbaren Extravaganzen befinde, die der durchschnittlich verantwortungsvolle Zeitgenosse bereit wäre, einem Kirchenvertreter zuzugestehen.

Wie immer man meine Affinität zu PS-protzenden Untersätzen deuten will, eines habe ich in diesen rennbegeisterten Jugendjahren gelernt: Pole Positions oder gar Siege sind nie allein der Verdienst des Fahrers. Hinter diesen Erfolgen steht immer ein ganzes Team mit dem unbedingten Willen zum Erfolg. Ganz besonders fasziniert haben mich die Präsentationen der neuen Boliden am Anfang der Saison. Während endlosen Testrunden wurden der neue Wagen optimiert, Fehler korrigiert, Reifen ausprobiert und die unzähligen Komponenten aufeinander abgestimmt. Das Erstaunliche dabei: Oft war das neue Modell zu Beginn dieser Testserie langsamer als das Vorgängermodell, erst nachdem die typischen Kinderkrankheiten ausgemerzt waren, wurden die besseren Rundenzeiten erzielt. Dabei ist dem ganzen Rennstall und jedem einzelnen Mitarbeitenden in der Box bewusst: Das kann nicht anders sein, diese Schwierigkeiten im Umgang mit dem neuen Wagen sind selbstverständlich, denn dieser ist nichts anderes als ein Rohdiamant, der zuerst geschliffen werden muss. Und das bedeutet Arbeit. Eine spannende und herausfordernde Arbeit, in dem Fahrer, Ingenieure und Techniker aufs Engste zusammenarbeiten. Karl Barth soll einmal gesagt haben, dass sich jeder Mensch in einem endlos variierten Versuch befinde, glücklich zu werden. Das entspricht so ziemlich genau dem Vorgehen eines Formel 1 Teams, wenn es sich an die Arbeit macht, den neuen Rennwagen für die bevorstehende Weltmeisterschaft fit zu trimmen.

In den vielen Jahren, in denen wir junge Menschen begleiten, haben wir gelernt, die alltäglichen Rückschläge in der Streetchurch in Analogie zu den Bemühungen in einem Formel 1 Team zu sehen. Wir versuchen dabei das Wort «Scheitern» mit seiner eindeutig negativen und demotivierenden Konnotation zu vermeiden. In all den vielen Ereignissen, die man gemeinhin als Scheitern bezeichnet, sehen wir – neben dem Schmerzhaften und Mühsamen – auch immer das Potential für die nötigen Veränderungen bzw. Modifikationen, die vorgenommen werden müssen, um ein einigermassen gelingendes Leben zu verwirklichen. (Wer kann schon von einem rundum gelungenen Leben berichten?) Gerade dann, wenn sich Menschen zu einem Neustart im Leben entschliessen ist es so, wie wenn sie sich in ein neues Formel 1 Modell setzen: Die ersten Runden laufen alles andere als rund; das neue Leben passt alles andere wie angegossen, das Umgewöhnen oder gar Abgewöhnen von alten Gewohnheiten fällt schwer, es passieren Fehler, vielleicht bricht der Wagen gar aus, touchiert die Leitblanken… Rückschläge sind an der Tagesordnung und oft erleben wir es, wie unsere Rennfahrerinnen und Rennfahrer ihr brandneues Leben frustriert zurück in die Streetchurch-Box steuern und am liebsten aussteigen wollen. Doch entscheidend ist in diesen Momenten einzig und allein, dass sie ihren – vielleicht bereits wieder arg beschädigten Boliden – zurück in die Streetchurch-Box steuern: Denn hier warten Menschen, die wie ein Formel 1 Team funktionieren und die sich mit Hingabe an die Arbeit machen: Ist etwas beschädigt, wird es selbstverständlich ausgewechselt – selbst wenn es das sieben Mal siebzigste Mal sein sollte – wie sonst sollten wir unser gemeinsames Ziel erreichen? Um zu erfahren, was noch nicht stimmt, führen unsere Teilnehmerinnen mit ihren Coaches intensive Gespräche und gemeinsam entscheiden sie, welche Änderungen vorgenommen werden müssen. Und ja, es wird auch über Fahrerfehler gesprochen. Ziel ist und bleibt, aus dem neu gestarteten Leben das Beste herauszuholen. Dabei ist uns sehr wohl bewusst, dass nicht jede ganz vorne mitfahren kann, aber jeder kann Fortschritte erzielen. Wie weit es im Leben, das ja schon Paulus mit einem Wettlauf verglichen hat, jemand bringen wird, das wissen wir nicht. Manchmal sind die Veränderungen oder besser: die Verbesserungen bescheiden. Aber auch über diese bescheidenen Fortschritte freuen wir uns und ich denke, dass es den Mitarbeitenden des nicht gerade verwöhnten „Alfa Romeo Racing Teams“ in der Formel 1 nicht anders ergeht, wenn sie – vielleicht wider Erwarten – einen Punkt nach Hause fahren. Wir sehen es ganz ähnlich: Hauptsache, wir bewegen uns miteinander und zwar vorwärts. Und wenn es wieder einmal, allen Anstrengungen zum Trotz, rückwärts anstatt vorwärts geht, dann halten wir als Team zusammen, weil es uns alle betrifft. In solchen Momenten fühlen wir, was Paulus meinte, wenn er der christlichen Gemeinde in Korinth schrieb:

«Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit.»

Es gibt wenige Credos in den Programmen der Streetchurch, aber das eine Credo kennen alle: Wir halten durch und zwar gemeinsam; egal wie miserabel es läuft, wir machen weiter und wir geben nicht auf. Eine solche Haltung funktioniert nur im Team das sich als verschworene Gemeinschaft versteht.

So sehen wir das mit dem Scheitern in der Streetchurch: Wir erkennen darin Chance und Herausforderung zugleich, als ganze Gemeinschaft weiter zu kommen, indem wir gemeinsam an Fehlern und Schwächen des Einzelnen arbeiten. Wir tun dies so unaufgeregt wie möglich, weil wir überzeugt sind, dass der selbstverständliche Umgang mit dem Scheitern ein konstruktives und positives Klima in unserer Gemeinschaft erzeugt, was wiederum eine ideale Voraussetzung für die nötigen Veränderungen des Einzelnen ist. Was diesen Veränderungen aber diametral entgegensteht, weil es jeden Fortschritt und jede positive Veränderung verhindert: Schwierigkeiten zu verschweigen und Fehler zu vertuschen. Wir machen das unseren «Fahrerinnen» immer und immer wieder bewusst: Ihr könnt ausrufen, die Hände verwerfen und auch mal etwas durch die Streetchurch-Box werfen, das alles hat Platz, gehört einfach dazu, nur bitte: verschweigt nichts und vertuscht nichts – schon gar nicht die eigenen Fahrfehler – und mag es euch noch so sehr frustrieren oder peinlich sein, denn dann hindert ihr das ganze Team vorwärts zu kommen.

Es ist uns durchaus bewusst, dass dieser Ansatz, wie wir mit dem Scheitern von uns Menschen umgehen, Kritik auslösen kann: Nehmen wir die Konsequenzen, das menschliches Fehlverhalten nach sich ziehen kann ernst genug? Negieren wir mit diesem selbstverständlichen Umgang mit menschlichen Schwächen und Fehlern nicht die Verantwortung für unser Handeln? Es ist so: Das Scheitern des Menschen ist oft auch Ausdruck oder Folge von fehlendem Verantwortungsbewusstsein und gerade im Hinblick auf die Auswirkungen auf das menschliche Zusammenleben alles andere als banal. Doch die entscheidende Frage bleibt: Wie verhalten wir uns, damit die Menschen, die uns anvertraut sind, gegenüber sich selbst und gegenüber ihren Mitmenschen ein verantwortungsbewusstes Handeln einüben können? Oder anders formuliert: Wie müssen wir uns verhalten, damit sich unsere Mitmenschen möglichst effektiv und erfolgversprechend von destruktiven Verhaltensmustern lösen können? Unsere Erfahrung ist: Am eindrücklichsten sind die Veränderungen gerade dann, wenn Menschen das Scheitern als unvermeidliche Begleiterscheinung des Lebens annehmen dürfen und dabei erfahren, wie das gemeinsame Arbeiten an Fehlern sie als Individuen weiterbringt und gleichzeitig die Gemeinschaft, die diese Haltung teilt, reifer und tragfähiger werden lässt

Pfr. Markus Giger

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Face 2 Face

Vanessa über Norina, Norina über Vanessa

Im Streetchurch-Alltag ist vieles Beziehungsarbeit.Was denken Personen aus der Zielgruppe über Mitarbeitende und umgekehrt?
Wir haben mit Vanessa (links) und Norina (rechts) gesprochen. Vanessa (26) kam vor vier Jahren auf der Suche nach einer Lehrstelle in die Streetchurch. Norina (34) startete vor zwei Jahren ihr Praktikum als Sozialarbeiterin FH. Beide schliessen ihre Ausbildung bald ab. Vanessa geht gern und regelmässig ins Fitness-Center. Norina joggt und treibt allgemein gern Sport.

Vanessa über Norina

«Ich kam per Zufall in die Streetchurch. Ich hatte ein Inserat in einer Gratiszeitung gesehen. Nach drei Jahren erfolgloser Suche, brauchte ich Hilfe bei der Suche nach einer Lehrstelle. In der Streetchurch bekam ich dafür Unterstützung und eine Struktur.
Norina lernte ich erst später kennen. Ich war bereits in der Lehre, kam aber weiterhin regelmässig zu Terminen in der Streetchurch. Plötzlich arbeitete sie an der Kaffeebar und ich fand sie von Anfang an sehr sympathisch. Sie war hilfsbereit und ihre Herzlichkeit war grossartig.
Nachdem wir an einem Event der Streetchurch zusammengearbeitet haben, hat mich Norina zu einer Frauengruppe eingeladen. Da tauschen wir uns über Gott und die Welt aus und diskutieren gemeinsam. Alle bringen dabei ihre eigenen Themen mit und wir leben Gemeinschaft.
So fand ich in Norina eine weitere Bezugsperson, mit der ich mich austauschen kann. Ich kann viel von ihr und ihrem eigenen Weg lernen und sie fast alles fragen. Sie ist eine vertrauensvolle Person und sehr fürsorglich.
Bis heute gibt mir die Streetchurch so Halt. Oft habe ich mich allein gefühlt. In der Streetchurch ist Leben. Man kann so kommen, wie man ist – auch rebellisch – und bekommt Unterstützung.
Im Sommer 2020 schliesse ich meine Lehre als Köchin EFZ ab. Mein Traum ist es, später mal als Ernährungsberaterin zu arbeiten.»

Norina über Vanessa

«Am Anfang kannte ich Vanessa nur von einzelnen Begegnungen an der Kaffeebar in der Streetchurch. Sie fiel mir aber sofort als herzliche Person auf.
Als wir gemeinsam für den Neujahrsapéro beim Gemeinderat Zürich in der Streetchurch-Küche mithalfen, lernten wir uns besser kennen. Beim gemeinsamen Arbeiten kamen wir miteinander ins Gespräch. Es fanden plötzlich auch ernste und persönliche Themen Raum.
Daraufhin habe ich Vanessa zu unserer Frauengruppe am Freitagabend eingeladen. Da treffen wir uns regelmässig und kommen miteinander ins Gespräch. Dort schätze ich ihre Ehrlichkeit und Offenheit. Sie gibt auch preis, was sie beschäftigt und spricht nicht lang drum herum. So entsteht Vertrauen. Das gibt eine Basis.
Mit Vanessa bin ich gemeinsam unterwegs. Ich erfülle nicht einfach einen Job oder eine Aufgabe. Wir tauschen uns beide aus, wie es uns geht und wo wir aktuell dran sind.
Solche Gemeinschaft schätze ich in der Streetchurch enorm. In der Begegnung mit Vanessa kann ich auch selbst wachsen und mich besser kennenlernen. Es geht nicht nur um sie, sondern auch um mich selbst und meinen eigenen Prozess.
Meine Ausbildung zur Sozialarbeiterin FH habe ich fast abgeschlossen. Neu übernehme ich in der Streetchurch als WG-Coach Verantwortung. Was die Zukunft darüber hinaus noch bringt, das wird sich weisen.»

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Fachartikel

Sozialberatung: Ganzheitlicher Support bis zum Ziel

Junge Menschen müssen beim Übergang vom Jugendalter ins Erwachsenenleben komplexe Herausforderungen meistern: Berufsfindung und Ausbildung, Ablösung von den Eltern, Umgang mit Geld, persönliche Administration, Identitätsentwicklung – und vieles mehr.

Gründe, an einer oder mehreren dieser Herausforderungen zu scheitern, gibt es viele. Die Erfahrung in der Streetchurch zeigt, dass häufig komplexe familiäre Situationen und psychosoziale Belastungen dazu beitragen. Konflikte, Kündigungen, unbefriedigende Wohnsituationen, Resignation in der persönlichen Administration, Konsum von Suchtmitteln, geringer Selbstwert – meist bringt eines dieser Themen einige weitere mit sich.
In der Streetchurch begleiten Sozialarbeitende junge Erwachsene bei diesen Herausforderungen. Dies im Rahmen unseres Angebots Sozialberatung oder in den Angeboten Top4Job und Begleitetes Wohnen, in denen sie als interne Case Manager und Case Managerinnen fungieren. Dabei wird die kooperative Zusammenarbeit zwischen internen und externen Fachpersonen koordiniert und initiiert. Als verlässliche Bezugspersonen geben die Sozialarbeitenden den jungen Erwachsenen Orientierung, Sicherheit und entwickeln mit ihnen neue Perspektiven. Die Richtung bestimmen die jungen Erwachsenen individuell. Die Sozialarbeitenden bieten einen Werkzeugkoffer an Methoden und Fachwissen, der die Zielerreichung unterstützt. Dieser besteht dabei nicht nur aus fachlichem Rat, sondern auch aus Ermutigung und Begleitung – praktisch und konkret.

Auch junge Menschen wollen nicht einfach als Klient und Klientin oder Fallnummer abgehandelt werden. Sie wollen gesehen und gehört werden. Zeigen die Sozialarbeitenden echtes Interesse und investieren sie in die Beziehung, erleben wir es häufig, dass junge Menschen sich öffnen und sich ermutigt fühlen, auch an Schwächen zu arbeiten. Von den Fachpersonen in der Streetchurch fordert dies immer wieder den Entscheid, sich voll und ganz auf den Menschen einzulassen, auch wenn er oder sie sich mit ihrem Verhalten sträubt. Nahe am Menschen finden sich so im gemeinsamen Unterwegssein individuell zugeschnittene Lösungen.
In der Schweiz verfügen wir durch Sozialversicherungen und die Sozialhilfe über ein Netz, das soziale Sicherheit ermöglicht. Für manche unserer Klienten und Klientinnen stellen bereits die damit geforderten Formalitäten eine Hürde dar und sie scheitern an der Selbstorganisation oder an mangelndem Selbstvertrauen. Andere sind sogenannte Care-Leaver und seit Jahren in Kontakt mit Fachpersonen. Erfahrungsgemäss ist deren Kooperationsbereitschaft insbesondere gegenüber Amtspersonen häufig klein. Die Fachpersonen der Streetchurch nehmen dabei eine vermittelnde Rolle ein, indem sie den jungen Erwachsenen auf der Beziehungsebene ihre Würde zusprechen sowie schwierige Schritte gemeinsam in Angriff nehmen und bewältigen. Die kooperative Zusammenarbeit mit internen und externen Fachpersonen ist dabei ein wichtiges Hilfsmittel. Damit können die Aufgaben geklärt, Synergien genutzt und Doppelspurigkeiten vermieden werden.
Ein grosser Stellenwert hat in der Streetchurch die nachhaltige Veränderung. Die Praxis zeigt, dass diese nur gelingen kann, wenn die Menschen ganzheitlich erfasst und unterstützt werden. Je nach Ausgangslage braucht dies Zeit und Vertrauen. Doch nur auf einem stabilen Fundament kann nachhaltig aufgebaut werden.

Photo by Steven Lelham on Unsplash

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Portraits

Macieli: «Ich werde als Individuum angeschaut..»

«Nach der obligatorischen Schulzeit machte ich zwei Praktika und war dann ein halbes Jahr lang arbeitslos. Daher war ich froh, ins Programm Top4Job einsteigen zu können. Ich gab Gas, erreichte bereits nach drei Monaten die Stufe 3 und fand bald darauf eine Lehrstelle. Diese verlor ich leider wieder wegen eines Missverständnisses. Für mich war klar, dass ich – falls sich eine Möglichkeit bieten sollte – wieder bei der Streetchurch einsteigen würde.

Mir gefällt das Gemeinschaftsgefühl hier… und ich werde als Individuum angeschaut. Wenn ich beispielsweise Hilfe bei meinen Finanzen brauche, schaut man sich diese mit mir an. Bei der Sozialfirma habe ich – von Umzugsdienst und Gartenarbeit einmal abgesehen – vom Schaufensterputzen bis zur Wohnungsendreinigung schon fast alles gemacht. In der Schule arbeite ich an der Verbesserung meiner Bewerbungsschreiben und Deutschkenntnisse. Mathematik darf ich aufgrund meiner bereits guten Kenntnisse leider nicht üben. Daneben gehe ich ab und zu auch in die Grow Sessions und zum Sport. All das gibt mir Sicherheit und Selbstvertrauen. Sollte ich im Sommer eine Lehrstelle antreten dürfen, wäre ich bestimmt gut vorbereitet.»

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Portraits

Felipe: «Heute ertappe ich mich sogar dabei, dass ich in meiner Freizeit zu lernen beginne.»

«Selbst die Telefongespräche und Verwarnungsschreiben, die ich zu Beginn meiner Streetchurch-Zeit jeweils erhalten habe wenn ich nicht beim Top4Job-Programm erschienen bin, waren freundlich. Und als ich dann am Morgen endlich wieder auftauchte, waren die Leute nett zu mir – wie Freunde oder Familienangehörige. Statt mir den üblichen Der-hats-wieder-nicht-geschafft-Blick zuzuwerfen, gab man mir zu verstehen: «Yes, du bist hier!». Wo gibt’s das sonst?
Ich war es damals nicht gewohnt, am Morgen beizeiten aufzustehen. Ich wohnte in einer furchtbaren Unterkunft, pflegte schlechten Umgang, trank, kiffte und hatte mit allen Stress: mit meiner Familie, mit der Polizei, eben mit allen. Und wenn ich einmal zu Geld gekommen bin, habe ich damit bestimmt nichts Gescheites angestellt.

In der Sozialberatung wurde mir erklärt, dass man mir nur helfen könne, wenn ich verraten würde, was mit mir los sei. Ich schämte mich für den Berg von Unterlagen, den ich mitgebracht hatte: Mahnungen, Schulden, Betreibungen. Gemeinsam gingen wir die Sachen durch und meine Sozialberaterin erklärte mir, wie ich die Unterlagen in Zukunft sortieren kann. Vorher sah das aus wie Konfetti bei mir. Mit ein paar Telefonaten sorgte sie dafür, dass plötzlich keine neuen Mahnungen mehr reingeflattert kamen. Es war, als ob jemand Pause gedrückt hätte.
Ich begann, mich langsam zu verändern. Das lag sicher auch an den vielen guten Gesprächen, die mich manchmal zum Weinen, aber oft auch zum Lachen gebracht haben, was mir sehr gut tat. Irgendwann hat es dann klick gemacht und ich sah für mich wieder eine Zukunft. Ich begann, meine Schulden abzubezahlen, arbeitete motiviert und fand eine Lehrstelle als Schreinerpraktiker. Auch mit meiner Familie habe ich mich versöhnt.
Heute ertappe ich mich sogar dabei, dass ich in meiner Freizeit den Schulordner hervornehme und zu lernen beginne.»

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Kolumne

Churchstreet

Mit «Kirche» wird in unserer Stadt reflexartig der Kirchenraum, der Gottesdienst oder die Institution verbunden. Alle drei wandeln sich: Der Kirchenraum in der Innenstadt öffnet sich Hunderttausenden, die hineinströmen und irgendwie verändert hinausgehen. Der Gottesdienst wandert vom Sonntagmorgen weg hin zu Abend oder Morgen, Wochentagen oder Geburtstagen. Und die Institution der 34 Kirchgemeinden in unserer Stadt wandelt sich zur grössten einen Kirchgemeinde in Europa.

Die Gruppe von jugendlichen Täufern aus Amerika, von Freiwilligen aus Schwamendingen, die am Samstagmittag das Grossmünster besuchen und spontan um den Taufstein zusammenstehen, beten und singen, während die Masse von Asiaten und die paar versprengten Reformierten erstaunt und irritiert dastehen, das ist «Kirche» in den 10er-Jahren dieses Jahrhunderts.

Die Streetchurch ist ein Kind dieses Wandels und setzt noch einen drauf. Nicht nur wird der Alltagsraum im Hinterhof des Hauses jeden Mittwoch zum Sakralraum junger «Kirche», nicht nur wird der Monolog der Predigt des Einen zum Dialog untereinander, nicht nur verflüssigt sich die Institution zugunsten des Inhalts vom geteilten Leben miteinander – nein, die Kirche drinnen im Haus an der Badenerstrasse drängt hinaus auf die Strasse.
Streetchurch wird zu Churchstreet, die Strassenkirche zur Kirchenstrasse. Es sind drei Kräfte, welche die Streetchurch auf die Strasse ziehen und so die evang.-ref. Kirche sichtbar machen draussen vor den Türen der «Kirchen» unserer Stadt:

Blick nach draussen: Die sauberen Jungs machen die Fenster von Jung und Alt in den Gassen unserer Stadt sauber. Der Blick beim Putzen ist der Blick nach draussen, nicht der Blick nach drinnen. Der Blick nach draussen ist es, der nach draussen zieht. Seit 15 Jahren steht die Streetchurch dafür ein, all das, was den Blick nach draussen verstellt oder vernebelt, wegzuräumen. Was Ulrich Zwingli vor 500 Jahren drinnen im Grossmünster gemacht hat, machen die Jungs und Mädels heute draussen auf der Strasse: Der vom Altar leere Kirchenraum entspricht den vom Dreck gereinigten Fenstern. Das Beten drinnen und das Helfen draussen sind die zwei Seiten derselben Medaille, Liturgie und Diakonie treffen sich im Blick nach draussen auf die Strassen.

Religiös: Wer im Haus der Diakonie der Streetchurch ein- und ausgeht, zieht in Gottes Namen die Strasse ins Haus und baut das Haus auf die Strasse. Dieses Bauen an Gottes Welt in unserer Stadt geschieht nicht ausschliesslich reformiert, auch nicht exklusiv christlich. Da kommen Kulturen und Religionen zusammen, Kinder und Alte, Suchende und Irrende, Möchtegerns und Gernnochmehrs. Konstitutiv für die Identität, reformiert unterwegs zu sein, ist das Miteinander von Christen untereinander und Christen mit Muslimen, Juden, Atheisten und Budd-
histen. Das Haus der Diakonie ist Forschungslabor für die Entwicklung von religiöser Erfahrung mit sozialer Verantwortung.

Sprachenvielfalt: Wer auf die Strassen von Zürich gezogen wird, hört ein Stimmengewirr von unendlich vielen Sprachen, sieht Gesten, Signale und Zeichen. Kirchen muss es besonders auf den Strassen wohl sein, denn im Stimmengewirr der vielen Menschen hören sie begeistert die Stimme Gottes. In der Streetchurch werden viele Sprachen gesprochen, es entsteht jeden Tag eine Kirche, die auf den Mund der Menschen auf der Strasse sieht. Auch das ist reformiert.

Der Blick nach draussen öffnet das Fenster zur religiösen Erfahrung, die durch das Stimmengewirr vieler Sprachen und auch schweizerdeutscher Sprache vom Geist durchgewirbelt, erneuert und transformiert wird. Dieser Geist ist der Geist, der in Gottes Namen Kirchengebäude umnutzen und Kirchen wegziehen lässt von fest verankerten Häusern hin zu neuen Orten mitten in den Strassen und Adern von Zürich.

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Face 2 Face

Nico über Pascal, Pascal über Nico

Pascal (36) ist Leiter der Arbeitsintegration in der Streetchurch, Familienvater von vier Kindern und träumt als Hobbysportler heute noch von einer Tenniskarriere.
Nico (23) war fast vier Jahre lang Teilnehmer im Trainingsprogramm Top4Job und absolviert heute eine Lehre als Logistiker EFZ. In seiner Freizeit schreibt er gerne Fantasy-Geschichten.

Pascal über Nico

«Meine erste Begegnung mit Nico war das Vorstellungsgespräch, als er sich für unser Trainingsprogramm Top4Job interessierte. Mir ist in Erinnerung geblieben, dass er immer sehr schnell sprach. Mit der Zeit verstand ich ihn mit seinem sehr schnellen Hochdeutsch immer besser. Auch, weil wir immer wieder gemeinsam Feedback- und Standortgespräche durchgeführt haben.
Es war meine Aufgabe, Nico als Coach zu begleiten und mit ihm vor allem seine Arbeitseinsätze als Fensterputzer auszuwerten. Dazu haben wir viele Kundenfeedbacks miteinander angeschaut und besprochen. Er bekam viele gute Rückmeldungen, gerade auch von älteren Personen. Da fand er immer einen guten Draht. Wir haben aber auch Rückmeldungen angeschaut, bei denen es um Verbesserung ging.
Im Rückblick kann ich sagen, dass Nico in der Zeit bei uns grosse Schritte gemacht hat. Im Umgang mit Kunden, bei der Qualität auf Arbeitsaufträgen und im Umgang mit Vorgesetzten hat er sich stark entwickelt.
An Nico beeindruckt mich seine Ausdauer! Er hat in den vier Jahren bei uns nie resigniert. Er hat über 500 Bewerbungen* geschrieben und wohl über 20 Schnupperwochen bei Lehrbetrieben absolviert. Auch bei uns war er sehr zuverlässig. Nie war er unpünktlich und hat nie unentschuldigt gefehlt. In all den Jahren hatte er nur einen Krankheitstag.
Seit Nico letzten Sommer seine Lehre gestartet hat, haben wir weniger Kontakt. Aber noch heute schreibe ich ihm alle paar Wochen per Whatsapp und frage nach, wie es ihm geht.
Ein toller Teil meines Jobs in der Streetchurch ist es, dass ich Personen wie Nico langfristig begleiten kann. Es ist schön zu sehen, wie sie einen Prozess durchlaufen und einfach genial, daran Anteil zu haben und sie zu ermutigen.»

Knapp 400 individuelle Titelblätter hat Nico zu seinen Bewerbungen gestaltet.

Nico über Pascal

«An meinem ersten Arbeitstag bei der Streetchurch habe ich mich verlaufen. Zum Glück hat mich dann einer der Mitarbeitenden auf der Strasse gesehen und hereingerufen.
Ich bin damals zur Streetchurch gekommen, weil ich eine Lehrstelle suchte. Meine Mutter hat ein Inserat gesehen und ich habe mich gemeldet. Ich habe dann als Fensterputzer gearbeitet. Kurz hatte ich auch mal mit der Psychologin der Streetchurch Kontakt. Aber vor allem habe ich gearbeitet und die interne Schule besucht.
Dort habe ich sehr viele Bewerbungen geschrieben. Dabei habe ich viel gelernt. Und vieles davon kann ich heute in der Berufsschule nutzen. Weil ich gelernt habe, wie man ein schönes Titelblatt für Bewerbungen gestaltet, konnte ich in der Lehre ein Merkblatt für Gefahrensituationen gestalten. In der Schule habe ich auch für die Berufsschule gelernt. Es hat genützt. Mein Lehrer meinte, dass ich im letzten Halbjahr der Klassenbeste gewesen sei. Das hat mich gefreut.
In der Streetchurch hat mich Pascal stark unterstützt. Wir hatten viele Gespräche. An die schwierigen kann ich mich eigentlich nicht mehr erinnern. Aber ich weiss noch, dass Pascal immer für mich verfügbar war, wenn ich ein Anliegen hatte. Er hatte immer ein offenes Ohr. Einmal hatte ich Schwierigkeiten mit einem Kunden. Da hat mir Pascal den Rücken gestärkt. Das habe ich sehr geschätzt.
Persönlich habe ich in der Zeit in der Streetchurch viel gelernt, was Qualität und Effizienz angeht. Meine Lehre dauert jetzt drei Jahre, und danach würde ich gerne im Betrieb bleiben. Mal schauen, ob das klappt.»

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Poetry

Letter of hope

When everything seems 2 be hopeless
and everything seems to be going against you –
in that brief moment of despair
I just close my eyez and I dream for a second –
of a world where everything is possible.

In a world where you are truly loved 4 who you really are –
in a world where they see beyond ur mistakes and flaws –
where unity is our only hope of survival
and evolving the truth
is the key of our foundation –
where we can build trust on mutual understanding.

Even though we are only human and will never be perfect
but 2 live in a world where we won’t allow
2 give up on each other.
And as long as we try, things will change
if our hearts are still connected with the divine,
we will align like perfect stars
2 protect one and another.

I’m all in
I will always be there 2 keep u from falling –
cuz there is nothing more important in this lifetime
than 2 show that we truly care with patience
2 see a seed grow into a beautiful sunflower
where the sun shines
only 2 empower the whole nation!

Nzoy Wilhelm (34) kam vor über 10 Jahren auf Jobsuche zur Streetchurch, wo er sich später auch taufen liess. Seit knapp zwei Jahrzehnten verarbeitet er seine Gedanken, seine Sehnsüchte und seinen Schmerz in Poesie.

Titelbild by Jr Korpa on Unsplash
Portrait by Sandro Süess

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Kolumne

First

Wir sind Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, wie ein Begriff die Welt erobert: «First», «America first», «Ungarn first», «mein Portemonnaie first», «Sparen first» – Wahnsinn. «First» zerstört: das Gemeinwohl, den Frieden, die Zukunft, die Umwelt, den Planeten, die Menschen und die Verantwortung. Und es ist so kurzfristig gedacht, dass schon die Nasenspitze schmerzt!

Man kann es drehen und wenden wie man will: Es gibt Menschenrechte und Menschenpflichten und fair ist, wenn sie in Balance sind. Davon sind wir weit entfernt, und mit dem Wahn von «First, first, first» entfernen wir uns immer weiter von jeglicher Fairness und rennen wie Lemminge hin zum Abgrund. Das ist neben der moralischen Verwerflichkeit auch schlicht und einfach dumm.

Für Christinnen und Christen ist es höchste Zeit für das Kontrastprogramm. Wir sollen das andere Zeugnis wieder ins Zentrum stellen: Dienst und Liebe. Das mag antiquiert tönen, von gestern – nein, es ist noch viel älter: Es ist ewig und weist doch in die Zukunft.

Und es ist universal. Jede Weltreligion sagt deutlich: «Die Menschen first», keine Trennung in die und die andern. Jede kennt als oberstes Gebot: «Liebe, Diakonie, Caritas!»

Alles nur Reklame, ein verführerischer PR-Gag? Man kann das so beurteilen und verurteilen oder aber tun, was zu tun ist, alltäglich, konkret, unspektakulär, aber keineswegs verschämt und still. Es darf und muss wieder laut(er) werden.

Die Stadt Zürich ist eine Grossstadt, eine fantastische, lebendige und grossmütige Stadt. Menschen leben gern hier. Sie möchten eine Zukunft haben und das heisst:
Einwohnerinnen und Einwohner, mit und ohne Papiere, reiche und weniger reiche, tüchtige und gescheiterte, gesunde und kranke, Gäste mit gefüllter oder weniger gefüllter Brieftasche – die Stadt Zürich ist eine Heimat für Menschen, die «First» begriffen haben. Und das geht so:

Beim Gemeinwohl bleiben,
auch wenn es rumpelt,
hinstehen und sich zeigen,
präsent sein,
auch dort, wo es nicht so chic ist,
Zeugnis ablegen vom Ewiggestrigen
und Ewigzukünftigen,
wieder viel mutiger werden.

Und – ein Haus der Diakonie bauen, zentral und offen. Ohne viel Wenn und Aber, ohne tausend Reglemente und Absicherungen, ein Leuchtturm der Liebe, «Liebe First», «First» für die Menschen und eine menschliche Zukunft.

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Poetry

Dear God…

Dear God…
I beg you for shelter in your heavenly kingdom
make me smile again through the rain
heal my wounds where there is pain
guide me where u want me 2 be
cuz only in your kingdom
will i forever be free

Nzoy Wilhelm (34) kam vor über 10 Jahren auf Jobsuche zur Streetchurch, wo er sich später auch taufen liess. Seit knapp zwei Jahrzehnten verarbeitet er seine Gedanken, seine Sehnsüchte und seinen Schmerz in Poesie.

Titelbild by Jr Korpa on Unsplash
Portrait by Sandro Süess

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Fachartikel

Organisationsentwicklung: Sinnstiftende Zusammenarbeit

Dynamik und Komplexität im Alltag bewältigen. Als Streetchurch befinden wir uns auf dem Weg zur agilen und evolutionären Organisation.

Seit 15 Jahren engagieren wir uns als Streetchurch im multikulturellen und urbanen Umfeld des Grossraums Zürich. Wir begegnen und begleiten tagtäglich Menschen, die in verschiedenen Lebensbereichen vor grossen Herausforderungen stehen. In diesem Kontext erleben wir ganz besonders, was allgemein für die heutige Welt gilt: Dynamik und Komplexität nehmen auf allen Ebenen zu. Schnelle und kurzfristige Veränderungen, Unsicherheiten und fehlende Klarheit, Doppel- und Mehrdeutigkeiten sowie Unvorhersehbares und zu viele Einflussfaktoren müssen im Alltag unter einen Hut gebracht werden. Darauf eine Antwort zu finden, fällt nicht nur den Teilnehmenden unserer Angebote schwer. Als ganze Streetchurch sind wir gefordert. Die Antwort auf diese Herausforderungen heisst Agilität. Der Duden definiert sie als «die Fähigkeit … flexibel, aktiv, anpassungsfähig und mit Initiative in Zeiten des Wandels und der Unsicherheit zu agieren». Ein hoher Anspruch an uns als Organisation, unsere Mitarbeitenden und alle unsere Ziel- und Anspruchsgruppen.

Der belgische Unternehmensberater Frederic Laloux illustriert in seinem Buch «Reinventing Organizations» einen Leitfaden für sinnstiftende und agile Formen der Zusammenarbeit. Er zeigt auf, wie Organisationen als lebendige Organismen mit agilen Strukturen, agilen Prozessen und ganz allgemein mit einer Kultur der Agilität geprägt werden können. Agilität ist dabei mehr als eine Methode oder ein neues Werkzeug. Agilität soll als grundlegende Denkweise und Haltung verstanden werden – quasi als «Mindset» der Organisation. Denn dahinter steht ein grundlegend anderes Menschenbild als das, was leider noch in zu vielen Unternehmen und allgemein zu häufig im ersten Arbeitsmarkt vorherrscht. Oft ist man da der Überzeugung, dass der Mensch extrinsisch motiviert werden muss, weil er als schwach und unfähig sein Leben zu gestalten und zu verantworten angesehen wird. Resultate sind oft hoher Leistungsdruck und starke Überforderung der Einzelnen. Nicht so in agilen Organisationen. Sie sehen den Menschen als intrinsisch motiviert, der gerne und freiwillig arbeitet und Leistung bringt, der sein Leben selbst bestimmt und darin Sinn und Selbsterfüllung findet.

Schon seit unserer Gründung haben wir uns in der Streetchurch einem Menschenbild verschrieben, das jedem Menschen einen umfassenden Wert und eine unantastbare Würde zugesteht. Vieles von dem, was wir in den letzten Jahren lanciert und wofür wir uns bei vielen einzelnen Personen engagiert haben, war davon geprägt. Die Grundlage war also gelegt, als wir Ende des Jahres 2017 entschieden, uns noch stärker, fokussierter und nachhaltiger zur agilen Organisation zu entwickeln. Denn darin sehen wir das Potenzial, um uns auch in Zukunft umfassend und nachhaltig für die uns anvertrauten Menschen zu engagieren. Inspiration und Vorbild sind uns seither die rund ein Dutzend von Frederic Laloux untersuchten und von ihm so genannten «evolutionären Organisationen». Sie haben es geschafft, als lebendige Organismen in verschiedenen Branchen und in einer Welt voller Dynamik und Komplexität agil zu agieren.

Dabei stehen drei Prinzipien im Vordergrund: die Selbstorganisation, die Suche nach Ganzheit und der evolutionäre Sinn.

Drei Prinzipien, die wir nun auch in der Streetchurch stärken und etablieren.

Selbstorganisation bedeutet, dass hierarchische und bürokratische Pyramidenstrukturen durch ein vernetztes System verteilter Autorität und kollektiver Verantwortung ersetzt werden. Wir haben deshalb den ordentlichen Stellenbeschrieb abgeschafft. An seine Stelle treten flexible Rollen, welche von Mitarbeitenden und anderen engagierten Personen selbstverantwortlich übernommen werden. Rollen stärken das Bewusstsein aller Mitarbeitenden für die ihnen übertragene Verantwortung. Eine Verantwortung, die sie durch selbständige Entscheide umfassend wahrnehmen können. Einziges Kriterium: Sie lassen sich vor dem Entscheid von den vom Entscheid betroffenen Personen und von Experten beraten.

Mit dem Prinzip der Suche nach Ganzheit sollen sich die Menschen in einer Organisation wieder umfassend und ganzheitlich einbringen können. Nicht nur ein begrenztes und professionelles Selbst soll in den Alltag der Organisation eingebracht werden, sondern der Mensch als Ganzes, mit allen seinen Begabungen, Stärken, Schwächen und Herausforderungen. In einer Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens und der bedingungslosen Wertschätzung können sich Menschen so neu entfalten. Das gilt für unsere Mitarbeitenden genauso wie für die Teilnehmenden unserer Integrationsangebote. Ausprobieren, Neues wagen und dabei Fehler machen und zugestehen – das gehört selbstverständlich dazu.

Das Prinzip des evolutionären Sinns stellt schliesslich sicher, dass die Menschen in einer Organisation gemeinsam auf das hören, wohin sich die Organisation entwickeln will. Strategie und Planung sind nicht mehr allein die Aufgabe der Leitung. Diese muss nicht länger alleine die Zukunft vorhersagen und alle möglichen und unmöglichen Einflussfaktoren unter Kontrolle bringen. Auch in der Streetchurch gilt deshalb, dass sich alle Mitarbeitenden und engagierten Personen in die Weiterentwicklung der Streetchurch einbringen. Nicht nur einmal pro Jahr in einem moderierten Strategieprozess, sondern jeden Tag, jede Woche und jeden Monat bei vielen grossen und kleinen Entscheiden und Prozessoptimierungen im eigenen Verantwortungsbereich.

Wir haben uns auf den Weg gemacht, die Prinzipien einer evolutionären Organisationsentwicklung in unserem Kontext des sozialdiakonischen Engagements zu etablieren. Wir sind gespannt, wie wir damit die Grundlage legen, um auch in den nächsten Jahren in einer Gesellschaft voller Dynamik und Komplexität als Streetchurch unseren Beitrag leisten zu können.