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Theologie

Die Therapie für die Kirche heisst Versöhnung leben

Propheten haben es bekanntlich schwer in ihrem Heimatland. Nicht anders erging es dem Zürcher Theologieprofessor Emil Brunner. Vor bald 60 Jahren hat er geradezu prophetisch der Kirche ihr Leiden diagnostiziert:

«Was den modernen Menschen interessiert, ist einerseits die Frage nach sich selbst, nach dem Sich-selbst-Finden, die Frage danach, wie er mit seinen persönlichen Problemen fertig werden kann, andererseits die Frage nach der Gestaltung der Gemeinschaften, in denen er lebt, die sogenannte soziale Frage. Eine Kirche aber, die ihm nur als Institution begegnet, die um ihres angeblichen Gotteswortes willen existiert und ausschliesslich auf diesen Zweck hin ausgerichtet ist, die ihn also weder selbst in eine Gemeinschaft einschliesst noch zum Problem der Gemeinschaftsgestaltung etwas Erhebliches zu sagen hat, ist ihm von vornherein unglaubwürdig. Er mag darum auch ihr Wort nicht hören… Darum ist die Predigt, hinter der keine Gemeinschaft, sondern bloss eine Institution steht, unglaubwürdig.
Die Predigt des Evangeliums ist also nicht zu trennen vom Sein der Ekklesia als Gemeinschaft… Die Gemeinschaftslosigkeit der Institution «Kirche», ihr Auseinanderreissen von Reden und Sein, ist der tiefste Grund, warum so viele heutige Menschen ihr den Rücken kehren.»

Emil Brunner, Dogmatik Band 3, 124f, Zürich, 1960

Wir von der Kirche haben wohl auf die Diagnose reagiert und allerlei Therapien sind der Patientin verschrieben worden: So wurden Gottesdienste formal neu dosiert, eine Unzahl von mehr oder weniger nährenden Aktivitäten wurde entwickelt und aktuell sucht man das Heil für die von der Schwindsucht gezeichnete Kirche in langwierigen Strukturtherapien. Doch allen Bemühungen zum Trotz: Richtig besser will es der Patientin nicht gehen. So einhellig der Diagnose Brunners zugestimmt wird, so wenig scheint man willens oder fähig, sich der naheliegenden Therapie, die sich aus seinen Worten ergeben, zu stellen:

«Die Kirche als versöhnende Gemeinschaft, in der sich Reden und Sein entsprechen.»


Emil Brunner fordert als Therapie nichts weniger, als dass sich die Menschen der Kirche mit ganzer Hingabe um die Entsprechung von Reden und Sein, von Wort und Tat bemühen. Das Reden vom Glauben muss sich im Handeln der Kirche «inkarnieren». Nur so können Menschen die Kirche wieder als Ort der heilsamen Gemeinschaft entdecken.
In der Streetchurch versuchen wir diese Entsprechung tagtäglich umzusetzen. Dabei leitet uns eine faszinierende Beobachtung: Worte und Taten Jesu interpretieren sich gegenseitig. So entsprechen die Handlungen Jesu in einer interpretierenden Weise seinen Worten, genauso wie seine Worte sein Handeln klärend und erklärend auslegen. In dieser faszinierenden Entsprechung von Reden und Sein liegt wohl einer der Gründe für die überwältigende Anziehungskraft Jesu. «Und das Worte wurde Fleisch und wohnte unter uns.» Joh 1,14.

Genau dies ist unsere Erfahrung: Wenn Menschen erleben, wie wir darum ringen, Versöhnung tagtäglich in unser und in ihr Leben «hineinzuleben», dann beginnen sie sich für die Kirche zu interessieren – oder besser: für das, was Kirche im Sinne ihres Stifters sein soll, nämlich eine Gemeinschaft, in der sich Menschen mit Gott, ihren Mitmenschen und mit ihrem eigenen, oft von Brüchen gezeichneten Leben versöhnen dürfen.

Je länger wir miteinander und füreinander unterwegs sind, desto klarer wird uns die Sendung Jesu: Jesus teilte sich den Menschen aus. In seinem Reden, in seinem Handeln. Ganz und gar, bis zum Äussersten. Und auch da gilt wieder: Das Kreuz erfüllt die Worte Jesu beim letzten Abendmahl, und diese Worte deuten das Geschehen am Kreuz noch heute für uns, die wir ihm nachfolgen. Nachfolgen sollen wir ihm und dabei uns austeilen an die Menschen in unserer Zeit. Ganz und gar. Auf dass Versöhnung geschehe in einer Zeit voll von Unversöhnlichem. Darum geht es in der Gemeinschaft, die sich als Kirche in der Nachfolge Jesu Christi versteht. Wenn wir diese versöhnende Gemeinschaft leben, wird die Kirche gesunden. Und: Eine gesunde Kirche tut unserer Gesellschaft gut.

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Fachartikel

Psychologie: Die Kunst des richtigen Tempos

Manchmal scheint die Luft im Streetchurch-Zentrum zu vibrieren. Junge Menschen in den unterschiedlichsten Problemlagen suchen in unseren Räumen nach dem roten Faden in ihrem Leben oder auch nur nach einer kurzen Pause im Dauerstress ihres Überlebenskampfes.

Bis heute haben wir es noch nicht geschafft, die psychische Verfassung der jungen Menschen, die bei uns ein- und ausgehen, systematisch zu erfassen. Was sich aber mit Bestimmtheit sagen lässt, ist, dass der Anteil der psychisch gesunden jungen Menschen in unseren Angeboten nicht hoch ist. Der überwiegende Teil der Angebotsnutzer bringt massive psychische Belastungen mit und bewegt sich an den beiden Extremen: entweder nie aufgefallen und ohne Zugang zu den offiziellen Unterstützungsangeboten oder lange Reihe von Institutionen und grosses, aber nicht funktionierendes Helfersystem. In jedem Fall stranden diese jungen Menschen in unserem Zentrum mit einem Gefühl der Hilflosigkeit angesichts einer anforderungsreichen, unübersichtlichen und meist feindselig erlebten Umwelt. Ist es wirklich so schwierig, in der gut organisierten Schweiz, im reichen Zürich, die passende soziale Hilfe und psychologisch-psychiatrische Unterstützung zu bekommen? Unsere Erfahrung ist: Ja, es ist sehr schwierig. Die Problemlagen der jungen Menschen sind komplex und betreffen meist sowohl unser Sozialsystem als auch das Gesundheitssystem, entsprechend sind da Schnittstellen, ungeklärte Finanzierungsfragen, Problemstellungen, für die keine Lösung vorgesehen ist. Ein kleines Beispiel hierzu: Ist eine berufliche Massnahme über die IV wegen psychischer Instabilität gescheitert, muss der junge Erwachsene erst wieder beweisen, dass er in der Lage ist, über sechs Monate mindestens 50% arbeitstätig zu sein. Institutionen und Kostenträger, die dies ermöglichen, gibt es jedoch meist nicht, da muss der Klient sich selber etwas organisieren.

Hinzu kommt, dass die Akteure des Sozial- und Gesundheitssystems selber stark herausgefordert sind: Da ist auf der einen Seite die Ökonomisierung des Gesundheitswesens, wie sie sich beispielsweise im neuen Tarif für psychiatrische Leistungen (TARPSY) niederschlägt. Auf der anderen Seite ist der Spardruck vieler politischer (Agglomerations-)Gemeinden und der Sozialwerke (vor allem der IV), der die Akteure zu immer komplexeren und differenzierteren Methoden zwingt, um ihr Vorgehen zu legitimieren. Auch auf dem Arbeits- und Lehrstellenmarkt nimmt der Druck zu, dort sind es die Volatilität und Komplexität wirtschaftlicher Entwicklungen, die auf die beruflichen Integrationschancen junger Erwachsener einwirken. Dies zeigt sich zum Beispiel im überdurchschnittlichen Anstieg der Arbeitslosenquote der Geringqualifizierten. Kurzum, womit sich heutzutage Führungskräfte herumschlagen, damit schlagen sich auch hilfesuchende junge Erwachsene herum:

Unsere Welt ist volatil, unsicher, komplex, vieldeutig geworden, und wer psychisch belastet ist und dazu noch ein wenig unerfahren, tut sich damit schwer.

Aber auch die helfende Profession tut sich damit schwer und ist oft mehr mit der Bewältigung dieser Situation beschäftigt als mit dem Aufbau angemessener Angebote angesichts dieser Entwicklung.

In der Streetchurch beschäftigen wir uns täglich damit, die administrativen, rechtlichen und finanziellen Bruchstellen in den historisch gewachsenen Hilfesystemen zu überwinden und trotz ungenügender Ressourcen Kooperationen zwischen verschiedenen psychiatrischen, psychologischen und sozialarbeiterischen Anbietern so zu gestalten, dass unsere Klienten die notwendige Unterstützung erhalten.
Dazu braucht es zwei ganz unterschiedliche Ingredienzen:
Wir müssen sehr langsam sein, und wir müssen sehr schnell sein. Wir müssen so langsam sein, dass unsere Klienten ankommen können, damit sich Vertrauen bildet zwischen uns, damit für sie ein Gefühl von Sicherheit entsteht und wir überhaupt verstehen können, was sie brauchen und wer sie sind. Das reduziert Unsicherheit und Vieldeutigkeit aufseiten der integrationssuchenden jungen Menschen und aufseiten der unterstützenden Institutionen. Zwei bis drei Monate braucht das – dann sind die 60 Tage, nach denen nach TARPSY eine Behandlung abgeschlossen werden sollte, da sonst unökonomisch, schon vorbei! Dafür werden wir so zu verlässlichen Partnern anderer Player, weil wir die Situation unserer Klienten gut einschätzen können. Und wir müssen sehr schnell sein, flexibel sein, weil die komplexen Problemlagen unserer Klienten oft mit drängender Not verbunden sind, und erste Reaktionen wichtig sind, damit sich dieses Gefühl der Sicherheit, die Grundlage eines erfolgreichen Veränderungsprozesses, überhaupt einstellen kann. Wir haben darum für uns das Konzept der Agilität entdeckt, das allen Mitarbeitenden ermöglicht, aus dem direkten Kontakt mit den Klienten heraus die Beratungsprozesse selbstverantwortlich und selbstführend zu gestalten. Wir stellen fest, dass dies uns hilft, niederschwellig, ganzheitlich und individuell zu bleiben, so wie wir es uns auf die Fahnen geschrieben haben, und dass es zugleich für uns selber ermutigend und energetisierend ist.

Michèle Fark, Psychotherapeutin Streetchurch