Das Bild sitzt tief in unserem kollektiven Gedächtnis: Diese herzerwärmende Krippenszene mit Maria, das frischgeborene Jesuskindlein in ihren schützenden Armen oder bereits in der wärmenden Futterkrippe, dazu der verklärte Blick des Josefs, die andächtig frommen Hirten und das mindestens so andächtige Vieh, in Reih und Glied brav drapiert um den «holden Knaben mit lockigem Haar. Schlaf in himmlischer Ruh! Schlaf in himmlischer Ruh!» Doch, ganz unabhängig davon, wieviel Historizität man den Weihnachtsgeschichten der Evangelien zugesteht, die uns dort überlieferten Ereignissen vermitteln eine Realität, die in scharfem Kontrast zu unseren süsslich-romantisierenden Krippenliedern stehen. Was uns in den Berichten rund um die Geburt Jesu überliefert wird, ist im wahrsten Sinn des Wortes skandalös, anstössig, eine einzig grosse Zumutung für alle Beteiligten. Beginnen wir mit Maria, der «jungen Frau». Auch wenn dies der ursprüngliche Text nicht hergibt, war sie wohl auch Jungfrau, wohlerzogen und wohlbehütet im Schoss ihrer Familie. Verlobt wurde sie mit grosser Wahrscheinlichkeit als Teenager, vielleicht bereits im zarten Alter von zwölf Jahren. Als der himmlische Bote ihr die Schwangerschaft verkündet, war sie kaum viel älter als vierzehn, höchstens sechzehn. Dabei war ihre sexuelle Unversehrtheit die unverhandelbare Voraussetzung für ein unbescholtenes Leben an der Seite von Josef. War… Denn unverhofft bricht das bereits erwähnte himmlische Wesen in ihr Leben ein und beendet ungefragt und brutal ihr bisheriges traditionell unauffälliges Leben, das sie als heiratsfähiges Mädchen zu leben hatte.
Der Engel bringt keinen Frieden
Was Maria auch immer sah und hörte, es war nicht von dieser Welt und erschreckte sie zutiefst. Es würde uns wohl nicht anders ergehen. Die Worte des Engels müssen Maria wie Hammerschläge getroffen haben. Heiliger Geist werde über sie kommen und sie werde schwanger werden, einen Sohn zur Welt bringen, Jesus sollte sie ihn nennen, Sohn des Höchstens, Gottes Sohn… Versetzen wir uns in Maria den Teenager, wie sollte sie begreifen wie ihr und was ihr gerade geschah. Aber eins ahnte sie mit Sicherheit: Wenn das eben Verkündete, Ungeheuerliche eintreffen sollte, dann war’s das gewesen mit dem künftigen Leben an der Seite ihres Verlobten. Denn die unabwendbare Konsequenz der Ankündigung einer – ganz offensichtlich – illegitimen Schwangerschaft war ihr Ende. Nicht nur das Ende ihrer sozialen Stellung und der Beziehung mit Josef, es war das Ende von allem. Sie war verlobt, rechtlich galt sie als verheiratet. Schwanger zu sein von einem anderen Mann bedeutete in ihrer Situation Ehebruch. Maria drohte die familiäre und gesellschaftliche Ächtung, schlimmstenfalls gar die Steinigung.
Der Engel ging, Maria blieb. Schwanger. Wie verheissen. Nach den ersten Monaten, in denen Maria vielleicht noch zu hoffen wagte, dass die Erscheinung nur ein böser Traum gewesen sein mochte, wurde die Schwangerschaft zur sichtbaren Gewissheit. Irgendwann liess sich der Bauch nicht mehr verbergen. Spätesten zu diesem Zeitpunkt musste sie Josef die unglaubliche Geschichte zumuten. Zu überzeugen vermochte sie ihn nicht. Wen wundert’s. «Gott macht keine solche Dinge mit Leuten wie uns», ist die lapidare Reaktion des schockierten Josefs in einer Bibelverfilmung und widerspiegelt wohl durchaus naheliegend die Gefühlslage eines abgrundtief enttäuschten Bräutigams. Die «Mission impossible», den geerdeten jungen Mann von der Wahrheit dieser verrückten Geschichte zu überzeugen und ihn davon abzuhalten, seine schwangere Verlobte aus der Verlobung zu entlassen, musste wiederum der Himmel übernehmen. So erschien ein Engel auch Josef und dieser schluckte die bittere Pille, die ihm der Bote zukommen liess. Was blieb ihm auch anderes übrig? Vielleicht, kam da die Reise nach Bethlehem gerade rechtzeitig. Rom wollte, dass sich jeder im Heimatort in eine Steuerliste eintragen liesse. Gewohnt den Anordnungen der römischen Besatzungsmacht zu gehorchen, machte sich Josef mit der inzwischen hochschwangeren Maria auf die Reise von Nazareth nach Bethlehem.
Eine miserable göttliche Planung
Hätte Maria das Vorhaben mit einer Gynäkologin besprochen, wäre sie nie auf den Esel gehockt. Vor ihnen lagen gegen 160 Kilometer Wegstrecke über Gebirge und durch Wüste, auf unbewachten, gefährlichen Schotterpisten. Nachts sanken die Temperaturen in den Minusbereich, tagsüber brannte die Sonne unbarmherzig. Und das Tag für Tag, Nacht für Nacht, zwei, vielleicht sogar drei Wochen lang… Was für eine Zumutung. Die Frage muss erlaubt sein: Hätte der allmächtige Gott die Umstände für die Geburt seines Sohnes nicht besser planen können? Schlechtes Timing der himmlischen Logistik. Und in Bethlehem wartete bereits die nächste Zumutung, nämlich das nackte Chaos. Die Infrastruktur war in dem kleinen Kaff aufgrund der vielen zusätzlichen Menschen an ihre Grenzen gekommen und offensichtlich war das heilige Paar schlicht zu spät für einen Platz in einer einigermassen anständigen Unterkunft. Was übrig blieb war ein Stall, wahrscheinlich eher ein Felsloch, in dem man Tiere versorgte. Unter diesen unzumutbaren hygienischen Umständen, inmitten des Mistes von schnaubendem Vieh, gebiert der Teenager Maria ihr erstes Kind. Und nicht irgendein Kind, nein, den Sohn Gottes. Wäre die Szene durch tausendfache Wiederholung nicht dermassen abgeschliffen und uns vertraut, wir würden das Geschehen, ohne zu zögern, als grotesk bezeichnen. Und wiederum kann man sich des Eindrucks nicht erwehren: Eine Geburt unter solch prekären Umständen wirft das denkbar schlechteste Licht auf die göttliche Planung, eines Gottessohnes schlicht unwürdig. Wie Geburten im menschlichen Hochadel – die doch zumindest als Referenzwert für die Geburt des Gottessohnes gelten könnten – akribisch genau und detailversessen geplant und zelebriert werden, das demonstriert niemand perfekter als der britische Hof: Im leegeräumten Flügel des besten Spitals in London unter Wahrung höchster Sicherheitsstandards und in Gegenwart der erfahrensten Ärztinnen, erblickt der blaublütige Nachwuchs das Licht der Welt… Was für ein Kontrast zum stinkenden, blökenden Umfeld des Felsenlochs in Bethlehem. Nicht auszuschliessen, dass Maria überdies während der Entbindung mehr oder weniger sich selbst überlassen war, bestenfalls unterstützt von älteren Frauen.
Die Geburt Gottes bringt Schrecken und Tod
So sehr man der jungen Familie eine sorgenfreie Rückkehr nach Nazareth gegönnt hätte, gab es wohl keine ausgedehnte Verschnaufpause vor der nächsten Zumutung: Zwar lässt sich der exakte Zeitpunkt der folgenden Ereignisse aus dem Text bei Matthäus nicht eindeutig bestimmen doch wird deutlich, dass sich erneut dunkle Wolken zusammenziehen: Josef erscheint im Traum erneut ein Engel, der ihn auffordert mit Maria und Jesus nach Ägypten zu fliehen, da der paranoide Herodes versuchen würde, ihr Kind umzubringen… Wie wohl Maria auf diese Ankündigung reagiert hat? Panisch, zumindest sorgenvoll, gestresst? Wem würde es nicht gleich ergehen, denn vor ihnen stand erneut eine unglaublich strapaziöse Reise in eine ungewisse Zukunft als Flüchtlinge in einem fremden Land, in dem sie niemand mit offenen Armen willkommen heissen würde. Das folgende traumatische Kapitel der postnatalen Weihnachtsgeschichte kennen wir: Die Eltern entkommen mit dem Jesuskind den Schergen des Herodes, nicht aber die anderen Buben in Bethlehem und Umgebung. Die Abschlachtung von ungezählten Knaben unter zwei Jahren ist dermassen verstörend, dass dieser fürchterliche Horror kaum je in einer Weihnachtserzählung erwähnt wird. Doch auch dies gehört zur weihnachtlichen Botschaft: Gott kommt in die Welt und mit ihm Tod, Verderben und unsägliches Leid. Kinder werden ermordet, Mütter verzweifeln, Väter stürzen in bodenlose Trauer.
Weihnachten kompakt: Schmerz, Leid, Tod und Trauer
Weihnachten ist anstössig. Skandalös. Eine unerträgliche Zumutung. – Dies ist die Weihnachtsgeschichte, wenn wir es wagen, sie vom jahrhundertalten religiösen Kitsch befreit und ungeschönt zu hören. Noch einmal verdichtet zusammengefasst: Ein weiblicher Teenager wird ungewollt schwanger, was sie in ihrem religiös und kulturell konservativen Lebensumfeld in akute Lebensgefahr bringt. Dank der, nicht ganz freiwilligen, Barmherzigkeit ihres Verlobten entkommt die junge Frau der sozialen Verbannung oder Schlimmerem, doch für ihre Familie ist sie eine Schande und für ihren Mann eine Demütigung. Hochschwanger, von ihrem Umfeld verurteilt und geschmäht, wird die junge Frau einer gefährlichen und hochstrapaziösen Reise ausgesetzt, an deren Ende sie unter unwürdigen Umständen gebären muss. Nach einer unbestimmten Zeit sind die Eltern gezwungen, mit dem kleinen Jesus zu fliehen, währenddessen am Geburtsort – wegen ihrem Kind, dem menschgewordenen Gott – an einer unbekannten Anzahl von Kleinkindern ein Massaker verübt wird und andere Mütter, Väter und Verwandte in unvorstellbares Leid gestürzt werden. Das ist Weihnachten.
Erlösung durch Schmerz und Leid – das Geheimnis des Glaubens beginnt mit der Weihnachtsgeschichte
Eigentlich bleibt nur Sprachlosigkeit. Wenn da nicht die eine Frage brennen würde: Warum all diese Zumutungen, warum all das unfassbare Leid und all der Schmerz, wenn Gott als Mensch geboren wird? Vielleicht spüren wir, dass die Botschaft hinter der vordergründigen Geschichte, das Eigentliche, das da geschieht, zu gross ist, als dass wir es wirklich oder auch nur annähernd zu verstehen vermögen. Darum sollten wir Antworten lediglich erahnen: Es sind Antworten, die wir ausgerechnet im Betrachten von menschlichem Schmerz und Leid entdecken, denn es ist eine menschliche, vielleicht sogar die menschlichste aller menschlichen Erfahrungen: Schmerz wird durch menschliche Nähe gelindert. Der Schmerz des aufgeschlagenen Knies wird auf dem Schoss der Mutter weniger, die Trauer über die zerbrochene Beziehung in den Armen der Freundin getröstet. Niemals erleben wir mehr menschliche Nähe und Verbundenheit als im Teilen unseres Schmerzes und unseres Leids. Und so ahnen wir: Weil Gott uns nahekommen will, um unseren Schmerz mit uns zu teilen, zu lindern und letztlich zu überwinden, darum kommt er uns so nahe wie nur möglich, darum wird er Mensch. Doch ebenso wird uns ahnend bewusst, dass im leidvollen Geschehen der Weihnachtsgeschichte, im Moment der Menschwerdung Gottes, das gebrochene Wesen des Menschen in seiner ganzen leidvollen und leidverursachenden Verlorenheit offenbar wird. In der Ankunft Gottes, der Geburt Jesu, trifft das Heile auf das Unheile oder besser: der Heilige offenbart das Unheile der Unheiligen. Und so wird der abgründige Schrecken der Gottverlorenheit unserer Welt im so vielfältigen Leid und Schmerz der Weihnachtsgeschichte von den beteiligten Menschen erfahren und durchlitten. Doch Weihnachten ist erst der Anfang der Geschichte und so ist es eines der tiefsten Geheimnisse des christlichen Glaubens, das uns nicht erst im Kreuz Jesu, sondern bereits in der Geburtsgeschichte entgegenkommt: Erlösung geschieht durch die dunkle Notwendigkeit des Leidens, des geteilten Leidens und darum des Mitleidens. Erlösung geschieht, indem Gott sich selbst dem Schmerz und dem Leid des Menschseins durch seine Menschwerdung aussetzt und Schmerz und Leid so mit uns Menschen teilt, um es in letzter Konsequenz – durch das Kreuz hindurch – in seiner Auferstehung zu überwinden. Durch seine erlösende Teilhabe – «und das Wort wurde Fleisch» – an unserem Schmerz und Leid, werden wir aber auch Teil von Gottes Leiden. Genau dies musste Maria vom ersten Moment der schockierenden, ihr Leben gefährdenden Verkündigung, über die Geburt unter misslichsten Bedingungen, bis hin zum letzten verzweifelten Schrei ihres Sohnes am Kreuz erleben oder treffender: erleiden. So wurde sie zur Mitleidenden Gottes. Und ebenso sagt uns beim Betrachten der Lebensgeschichte Jesu das Geheimnis des Glaubens: Im Menschen Jesus leidet Gott an uns und mit uns – und dies ab dem ersten Moment der Geburt bis zum Sterben am Kreuz. So wie Gott an uns und mit uns Menschen leidet, so wird für Maria und für jeden Glaubenden das Leiden Gottes zum eigenen Leiden. Seitdem Menschen dem Geschehen im Evangelium begegnen, leiden sie mit Gott in seiner Menschwerdung; in seinem leidvollen Werdegang durch eine zerbrochene Schöpfung, ebenso ab dem ersten Moment der Menschwerdung unter leidvollen Umständen bis zum elenden Tod am Kreuz. Doch – und dies ist das innerste Geheimnis des christlichen Glaubens – ohne dieses Leiden in der Menschwerdung Gottes gäbe es keine letztendliche Überwindung von Leid und Tod, die durch das Kreuz und die Auferstehung des Menschen- und Gottessohnes Jesus Christus für uns ermöglicht wurde. So sehr die Menschwerdung Gottes unlösbar mit menschlichem Leid und Schmerz verwoben ist, so sehr darf uns im Betrachten der Weihnachtsgeschichte bewusstwerden: Das Hineinkommen Gottes in unsere Welt erzeugt Schmerz und Leid, ja sogar den Tod. Doch gerade dieses leidvolle Hineinkommen eröffnet die Perspektive für das letztendliche Überwinden von Schmerz, Leid und Tod. Vielleicht gelingt es uns, in diesem Jahr beim Anblick der Krippe und dem damit verbundenen so vielfältigen Schmerz das vielfach durchlebte Leid der letzten beiden Pandemiejahre in einem anderen, tröstlichen Licht zu sehen. Weil Gott mitleidender Mensch wird, haben weder Leid noch Geschrei noch Schmerz, ja selbst nicht der Tod das letzte Wort.
Pfr. Markus Giger, Weihnachten 2021, Zürich